Ungewollt schwanger in Deutschland © © ARD / Derek French / Staatsarchiv Bremen / Karl Edmund Schmidt
© ARD / Derek French / Staatsarchiv Bremen / Karl Edmund Schmidt

Schluss mit der Scham! Als die deutschen Frauen ihr Schweigen brachen

Trotz hoher Strafen: 1971 bekennen sich in Deutschland 374 Frauen öffentlich, abgetrieben zu haben. Die Aktion gilt als Auslöser der neuen deutschen Frauenbewegung. Nicht nur weil Alice Schwarzer damit zu Deutschlands umstrittenster Feministin wurde.

Alice Schwarzer © IMAGO / POP-EYE
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Mit Kleiderbügeln, Seifenlauge oder einer Fahrradpumpe: In den 1970er Jahren mussten Frauen zu den ungewöhnlichsten Mitteln greifen, wenn sie ungewollt schwanger waren und das Kind nicht behalten wollten.

Denn Schwangerschaftsabbrüche waren verboten. Nach dem §218 des Strafgesetzbuches konnten sie zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. Frauen, die abtreiben wollten, führten den Abbruch deshalb entweder selbst durch, gingen in die Niederlande oder in die Schweiz (wenn sie Geld hatten) oder ließen den Abbruch bei illegal abtreibenden Ärzt*innen oder sogenannten „Engelmacher*innen“ machen. Viele riskierten ihr Leben. Bis die Frauen in der 70er Jahren die Scham, Unsicherheit und Einsamkeit nicht mehr aushielten und wütend wurden.

Prägende Zeiten

Alice Schwarzer lebt und arbeitet damals als Au-pair in Paris. Sie ist jung und genießt das französische Leben. Es ist eine prägende Zeit für sie: vor allem, weil sie sich dort mit einer anderen deutschen Au-pair anfreundet. Diese erzählt Schwarzer nach einiger Zeit, dass sie schwanger ist – ungewollt. Sie möchte kein Kind, fürchtet sich allerdings davor zu einem Arzt zu gehen, um einen Abbruch durchführen zu lassen. Denn die Freundin hat Angst, dass sie angezeigt werden könnte und dann das Land verlassen müsste.

Also geht sie zu einer „Engelmacherin“. Einer Frau, die nicht professionell Abbrüche durchführt und daher Fehler macht. Schwarzers Freundin geht es nach dem Abbruch schlecht, sie blutet stark und kann sich gerade noch zu Schwarzers Wohnung schleppen. Dort bricht sie zusammen. Die Situation scheint gefährlich. Alice Schwarzer ist besorgt und kümmert sich um sie. Es wird Schwarzer prägen: die Hilflosigkeit, die Einsamkeit und Ungerechtigkeit, die ihre Freundin bei ihrem Abbruch erleben muss.

Frankreich als Vorbild

Nachdem es ihrer Freundin wieder besser geht, will Schwarzer ihren Traum verwirklichen, Journalistin zu werden. Sie geht nach Deutschland und beginnt Texte zu schreiben, unter anderem über die Probleme von Prostituierten. Nach einiger Zeit zieht es sie aber wieder zurück nach Paris und sie arbeitet dort als freie Korrespondentin für die deutsche Presse.

Es ist eine Zeit des Aufbruchs: In Frankreich hat sich die Bewegung „Mouvement de libération des femmes“ gegründet. Frauen fordern eine Reform des Abtreibungsrechts. Schwarzer berichtet als Journalistin über die Situation, engagiert sich gleichzeitig aber immer mehr als Aktivistin für die französische Frauenbewegung. Deren Forderungen und Gedanken faszinieren sie. Sie nimmt an feministischen Veranstaltungen teil und hilft bei Aktionen.

Schwarzer ist mittendrin, auch bei dem „Manifeste des 343“, das für Aussehen sorgt: Am 5. April 1971 erklären 343 Französinnen in der Zeitschrift Nouvel Observateur abgetrieben zu haben. Dazu gehören unter anderem die Schriftstellerin Simone de Beauvoir, die Schauspielerinnen Catherine Deneuve und Jeanne Moreau.

„Ich überlegte nur kurz. Dann griff ich zum Telefon und wählte die Nummer des Stern-Redakteurs Winfried Maaß.“

Alice Schwarzer

Die Aktion in Frankreich schlägt internationale Wellen. Alice Schwarzer ist begeistert und wünscht sich diese Proteste auch in Deutschland. Wenige Wochen nach der Kampagne des Nouvel Observateur bekommt Schwarzer die Chance: Jean Moreau, der französische Journalist, der die Aktion im Nouvel Observateur angestoßen hatte, ruft sie an: er habe eine Anfrage von einer anderen „komischen“, deutschen Zeitschrift namens „Jasmin“ erhalten, die die Aktion nachstellen wolle. Moreau habe aber das Gefühl, dass es der Zeitschrift nur um einen Werbegag ginge. Also bittet er Schwarzer der Zeitschrift zuvorzukommen und eine ähnliche Aktion in Deutschland zu organisieren. „Ich überlegte nur kurz. Dann griff ich zum Telefon und wählte die Nummer des Stern-Redakteurs Winfried Maaß“, so schreibt es Alice Schwarzer selbst in der Emma. Winfried Maaß sagt sofort zu.

Das Schweigen brechen
Also macht sich Schwarzer auf die Suche – mit der Sicherheit schnell Unterschriften zu finden, vor allem beim Frankfurter „Weiberrat“. Dieser gilt neben dem Aktionsrat zur Befreiung der Frau als größte universitäre Frauengruppe innerhalb der Außerparlamentarischen Opposition. Bekannt wurde der „Weiberrat“ vor allem, weil er sich gegen das machohafte Auftreten von Männern der 1968er-Bewegung engagierte.

Schwarzers Vorhaben wollte der „Weiberrat“ allerdings nicht unterstützen. Die Aktion sei zu „reformistisch“ und „kleinbürgerlich“, erzählt Schwarzer in der Emma. Beinah scheitert sie auch bei anderen Organisationen. Schließlich erklären sich aber einige „Rote Frauen“ aus München bereit bei der Aktion mitzumachen. Auch der „Sozialistische Frauenbund Westberlin“ willigt ein.

Die Hälfte der Unterschriften ist somit gesichert, die andere Hälfte sammeln Alice Schwarzer und ihre Mitstreiterinnen durch Mundpropaganda. Schwarzer reist durchs Land und spricht mit vielen Frauen, unter anderem auch mit bekannten Persönlichkeiten, wie Romy Schneider und Senta Berger. Aber auch mit Hausfrauen, Arbeiterinnen, Sekretärinnen und Studentinnen.

Die Frauen bekennen sich zu einer Abtreibung und fordern die Streichung des §218 und Abbrüche auf Krankenschein. Im Nachhinein stellt sich zwar heraus, dass nicht alle Frauen einen Schwangerschaftsabbruch durchführen haben lassen, wie zum Beispiel Alice Schwarzer selbst, aber trotzdem aus Solidarität mit anderen Frauen und Freundinnen unterschrieben haben.

Als Gegenleistung für die Unterschriften verlangt Schwarzer vom Stern ein kollektives Titelbild mit Porträts von mehreren Frauen, den ungekürzten Abdruck des politischen Appells und die Veröffentlichung einer Reportage über die Aktion. „Ich war schließlich nicht blauäugig. Mir war klar, dass ich auf der Hut sein musste, damit aus der Aktion keine Sensationshascherei würde“, schreibt Schwarzer in der Emma. Die Unterschriften übergibt sie dem Stern erst in der letzten Sekunde.

„Ich war schließlich nicht blauäugig. Mir war klar, dass ich auf der Hut sein musste, damit aus der Aktion keine Sensationshascherei würde“

Alice Schwarzer

„Wir haben abgetrieben“

Am 6. Juni 1971 bekennen sich dann 374 Frauen öffentlich im Stern-Magazin abgetrieben zu haben. Es ist eine Sensation: „Endlich redeten die Frauen! Aus den 374, die als erste das Tabu brachen, wurden bald tausende, ja hunderttausende, die forderten: Der § 218 muss weg!“, so Schwarzer.

Tatsächlich ist die Aktion ein Zünder für die neue deutsche Frauenbewegung. Es gibt zahlreiche Proteste im ganzen Land. Die Frauen wollen nicht nur über Schwangerschaftsabbrüche, sondern auch über Sexualität und Gleichberechtigung sprechen. Aktivistinnen fordern ein Recht auf Selbstbestimmung für jede Frau und die Streichung des §218. Am 11. März 1972 treffen sich daher 450 Frauen zum ersten Bundesfrauenkongress in Frankfurt und gründen gemeinsam die deutsche Frauenbewegung.

Die Folgen

Tatsächlich tut sich auf politischer Ebene etwas: der Bundestag stimmt 1974 für die Fristenlösung , die einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche der Schwangerschaft möglich macht. Konservative und kirchliche Vertreter rebellieren jedoch dagegen. Das Bundesverfassungsgericht stuft die Entscheidung 1975 als verfassungswidrig ein. Ein Jahr später reformiert die BRD den §218 dennoch: Schwangerschaftsabbrüche sind danach weiterhin rechtswidrig und bedeuten Strafe für Ärzt*innen und Schwangere. Abbrüche sind nun aber straffrei, wenn die Schwangere zustimmt, eine Frist von drei Monaten eingehalten wird und medizinische Gründe, eine soziale Notlage oder ein Sexualdelikt vorliegen.

Was ist geblieben?

Die heutige Regelung für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland unterscheidet sich kaum von dieser Regelung von 1975: der §218 existiert noch immer und noch immer sind Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich rechtswidrig. Nur unter bestimmten Bedingungen ist ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt oder zumindest straffrei.

Alice Schwarzer war schon immer eine umstrittene Persönlichkeit. Für ihre Aussagen zu Islamismus, Transsexualität und dem Ukraine-Krieg in den letzten Jahren wurde sie besonders kritisiert. Frauen ihrer Generation haben ihr viel zu verdanken, während sich junge Feministinnen immer weniger mit Alice Schwarzer identifizieren können.


Marie Steffens

 

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