Ungewollt schwanger in Deutschland © © ARD / Derek French / Staatsarchiv Bremen / Karl Edmund Schmidt
© ARD / Derek French / Staatsarchiv Bremen / Karl Edmund Schmidt

„Ich dachte, jetzt stirbst du“

Abtreibungsgeschichten

Wut, Trauma, Aktivismus: Der Paragraf 218 beeinflusst seit Jahrzehnten das Leben etlicher Frauen. Vier von ihnen erzählen, was er für sie bedeutet.

Karin B. © zeroone
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Mit letzter Kraft schleppt sich Karin B. die Treppe hoch. Sie blutet stark und ist allein. Ihr Freund hat sie gerade vor dem Haus einer Arztpraxis abgesetzt. Die Arztpraxis, in der sie vor einigen Tagen einen illegalen Schwangerschaftsabbruch durchführen hat lassen.

Es ist 1962 – Schwangerschaftsabbrüche stehen unter Strafe (§ 218), einzig und allein aus medizinischen Gründen darf die Schwangerschaft beendet werden. Trotzdem lassen viele Frauen einen Schwangerschaftsabbruch durchführen, allerdings mit unsicheren Mitteln.

So wie Karin B. Sie wird mit Anfang 20 ungewollt schwanger und entscheidet sich dafür die Schwangerschaft zu beenden. Weder sie noch ihr Partner wollen Kinder, Karin B. hat bis heute keine. Doch der Arzt macht seine Arbeit nicht fachgerecht und der Eingriff wird lebensgefährlich. Sie verliert viel Blut: „Ich dachte: Jetzt stirbst du“, erzählt sie.

Aber sie überlebt den Eingriff. Die Erfahrung prägt Karin B. aber ihr Leben lang: die Schmerzen, die Scham, das fehlende Mitgefühl der anderen. Sie erzählt, dass ihr Partner sie nicht einmal bis zur Praxis begleitet habe – aus Angst seine Karriere zu gefährden. Auch in ihrer WG habe sich niemand um sie gekümmert, als es ihr schlecht ging. „Ich habe mich so einsam gefühlt“, sagt sie.

„Wir wollten selbst entscheiden“

Karin B.

Ein andauernder Kampf
So ergeht es vielen Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Denn Abbrüche sind ein Thema, das die Gemüter spaltet – damals wie heute. Kirche und Konservative sehen den Schwangerschaftsabbruch als Tötung des ungeborenen Kindes und versuchen ihn um jeden Preis zu verhindern. Für andere, vor allem Frauen, sind Schwangerschaftsabbrüche hingegen kein Mord, sondern ein Menschen- beziehungsweise Frauenrecht.

Seit Jahren setzen sich Aktivist*innen dafür ein, dass Frauen selbst entscheiden dürfen, ob sie ein Kind bekommen wollen. Es ist ein langer Kampf, der bis heute andauert. Seine Anfänge hat er in der 1968er-Bewegung. Karin B. ist damals eine der ersten Aktivistinnen der Frauenbewegung in Deutschland. Kurz nach ihrem Schwangerschaftsabbruch beginnt sie sich politisch zu engagieren, gründet den Aktionsrat zur Befreiung der Frau: „Wir wollten selbst entscheiden“, erzählt Karin B. Frauen waren wütend: „Dass man uns unser Leben vorschrieb, dass der Körper der Frau dem Mann gehören musste“.

In den 1960er Jahren war das Leben von Frauen durch Paragrafen geregelt: Heiraten war die vorgesehene Karriere, arbeiten durften Frauen nur, wenn ihre Männer es erlaubten. Sex in der Ehe war Pflicht und Kinder das höchste Ziel jeder Ehe. Im Jahr 1961 kam zwar die Antibaby-Pille auf den Markt, die den Frauen die sexuelle Bestimmung versprach. Allerdings durfte auch diese offiziell nur von verheirateten Frauen genommen werden. Nicht jede Frau konnte also darüber bestimmen, ob sie schwanger sein beziehungsweise werden wollte.

Beatrice S. © zeroone
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Auf in die Niederlande
Wenn eine Frau ihre Schwangerschaft beenden wollte, konnte sie das nicht auf legale Weise tun. Aus diesem Grund ließen Frauen einen Abbruch unter den schwierigsten Bedingungen oder im liberaleren Ausland durchführen, wie zum Beispiel in den Niederlanden.

Eine von ihnen war Beatrice S. Sie war eine der Mitbegründerinnen der Beratergruppe §218, die Fahrten für schwangere Frauen in die Niederlande organisierte. Auf einer dieser Fahrten, die sie regelmäßig begleitet, ließ sie selbst einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen.

Ein Kind wäre für sie damals unvorstellbar gewesen. Heute bereut sie den Abbruch. Sie war viermal schwanger. Dreimal habe sie einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen, das vierte Kind habe sie behalten wollen, aber dann verloren.

Ihr Mann und sie hätten gern Kinder gehabt, aber das sei leider nach ihren Schwangerschaftsabbrüchen nicht mehr möglich gewesen. Trotzdem sei Beatrice S. stolz darauf, vielen anderen Frauen bei sicheren Abbrüchen geholfen zu haben, die sie ohne die sogenannten „Hollandfahrten“ nicht gehabt hätten.

„Wir haben abgetrieben“
Unsichere Schwangerschaftsabbrüche, die Scham und gesellschaftliche Verurteilung – das wollten sich die Frauen in den 1970er Jahren nicht länger gefallen lassen: Sie wollten nicht länger „Gebärmaschinen“ sein und forderten das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Das sollte unter anderem eine Streichung, oder zumindest eine des § 218 beinhalten. Dieser sollte um eine Fristenlösung ergänzt werden, die regelte, dass innerhalb der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft abgetrieben werden darf, ohne Gründe angegeben zu müssen.

Demonstration gegen § 218 in Hannover 1973 © IMAGO / Klaus Rose
IMAGO / Klaus Rose

Es kam zu vielen Protesten. Diese gipfelten in der 1971 veröffentlichten „Stern-Kampagne“, initiiert von Alice Schwarzer. Das Stern-Magazin publizierte damals ein Titelbild mit 374 Frauen, die erklärten „Wir haben abgetrieben“. Eine von ihnen war Karin B.: „Dass das strafbar ist, das war mir relativ egal“, sagt sie heute. Sie findet die Aktion immer noch gut, denn sie sorgte für Aufsehen. Im Jahr 1972, stimmte der Bundestag für die Fristenlösung. Es war ein Gewinn für die feministische Bewegung. Kirche und konservative Parteien waren hingegen nicht begeistert, weshalb die Lösung auch nicht lange hielt: kurze Zeit später kippte das Bundesverfassungsgericht die Gesetzesänderung, weil sie gegen das im Grundgesetz verankerte Recht auf Leben verstoße. Das empfanden viele Frauen in der BRD als eine große Niederlage.

Heike W. © zeroone
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Freiheit in der DDR?
Für Frauen in der DDR fand hingegen, fast gleichzeitig, die Sensation statt: 1972 wurde das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ verabschiedet. Es besagt, dass jede Frau das Recht hat, bis zur 12. Woche ihre Schwangerschaft zu beenden. Sie brauchte dafür keine Gründe. Das selbstbestimmte Recht auf Abtreibung der Frau war auch eine politische Entscheidung des DDR-Regimes. Beruf und Familie sollten vereinbar werden, denn auch Frauen sollten Arbeitskräfte sein. Heike W. war damals DDR-Bürgerin, studierte in der Sowjetunion.

Sie verhütete mit der Spirale, die sich Frauen in der DDR beim Arzt verschreiben lassen konnten. Nach einigen Monaten kam dann der Schock: Heike W. erfuhr, dass sie trotz Spirale schwanger war. „Da waren zwei Seelen in mir“, erzählt sie. „Die eine hat sich gefreut: Mensch, du bist schwanger! Warum eigentlich nicht? Du hast nur noch ein Studienjahr“. Die andere Seite habe sich gedacht, dass eine Schwangerschaft mit der Spirale nicht normal sei und sich Sorgen gemacht, dass das Kind geschädigt sein könnte. Also habe sie entschieden, die Schwangerschaft zu beenden.

Der zuständige Arzt habe Schwangerschaftsabbrüche nur ungern gemacht. „Ich hatte das Gefühl, dass er Frauen, die zum Schwangerschaftsabbruch kommen, eher verachtete“, sagt sie. Er habe sie aber anders behandelt, vielleicht auch, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Schließlich hatte er ihr die Spirale zuerst empfohlen und dann den Abbruch vornehmen müssen.

Die Wiedervereinigung: ein Schock für viele DDR-Frauen
Das Recht auf einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch verloren Heike W. und alle anderen Frauen in der DDR im Zuge der Wiedervereinigung. Seit 1995 ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nämlich nur nicht rechtswidrig, wenn aufgrund medizinischer Gründe oder Sexualdelikte abgetrieben wird. Ein Abbruch unter anderen Umständen ist rechtswidrig, kann aber straffrei sein, wenn eine staatlich anerkannte Beratung erfolgt, eine Frist von 12 Wochen seit der Empfängnis und einer dreitätigen Wartezeit eingehalten wird.

„Du kannst nicht mehr selbst über deinen Körper bestimmen. Jetzt bestimmen andere über dich, was du in so einem Fall machen würdest, wenn du mal ungewollt schwanger werden würdest“,

Heike W.

Damals machte das Heike W. zornig: „Du kannst nicht mehr selbst über deinen Körper bestimmen. Jetzt bestimmen andere über dich, was du in so einem Fall machen würdest, wenn du mal ungewollt schwanger werden würdest, erzählt sie. Als der Politiker Wolfgang Böhmer, ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, dann auch noch im Radio sagte, dass ostdeutsche Frauen leichtfertig mit werdendem Leben umgangen seien, war es für Heike W. genug. Sie beschloss ein Buch zu schreiben, mit der Lebensgeschichte von Frauen, die in der DDR eine Abtreibung gehabt hatten. Ihr Fazit: Die Frauen, die sich selbst für einen Abbruch entschieden hatten, hätten nie mit psychischen Problemen oder Schuldgefühlen zu kämpfen gehabt.

Theresa H. © zeroone
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Abtreibung im konservativen, ländlichen Raum

Schuldgefühle oder Scham, einen Abbruch machen haben zu lassen, empfindet auch Theresa H. nicht. Sie war Ende 20 und noch Studentin, als sie 2013 schwanger wurde. Für sie stand deshalb sehr früh fest, dass sie die Schwangerschaft nicht weiterführen wollte: „Mir war von Anfang an aber klar, dass ich jetzt sehr schnell handeln muss. Und mir war völlig klar, dass ich das Kind unter keinen Umständen haben will. Und abgesehen von all dem, ich will keine Kinder.”, erzählt sie. Aber einen Schwangerschaftsabbruch in Bayern durchführen zu lassen, wo sie damals lebte , ist schwierig.

Theresa H. entdeckt die Schwangerschaft zwar schon in der fünften Woche, bekommt aber erst, nach einer demütigenden Beratung, mehreren ergebnislosen Arztbesuchen und Fahrten nach München, einen Termin in der 10. Woche der Schwangerschaft.

Das liegt vor allem daran, dass es in ländlichen Räumen immer weniger Praxen gibt, die einen Abbruch durchführen. Das berichten auch andere Frauen aus dem ländlichen Süddeutschland. Außerdem hätte der Arzt ihr nur wenige Informationen über den Abbruch bereitgestellt, sagt Theresa H. Es gab keine Hilfe bei der Suche nach Kliniken, sie musste sie selbst recherchieren. Vor der Klinik wurde sie dann von Abtreibungsgegner*innen belagert. Das sei für sie eine schlimme Erfahrung gewesen, erzählt Theresa H.

Abtreibungsgegner bei einer Demonstration in München 2022 © IMAGO / ZUMA Wire
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Die Realität heute
Noch immer demonstrieren Abtreibungsgegner*innen weltweit vor Kliniken. Sie wollen Schwangerschaftsabbrüche verhindern - und haben Erfolg: In Polen wurde das ohnehin schon strenge Abtreibungsrecht verschärft: Der US-Supreme Court, der Oberste Gerichtshof in den Vereinigten Staaten, kippt 2022 das bundesweite Recht auf Abtreibung.

Aber auch in Deutschland ist Abtreibung noch lange nicht straffrei. Es könnte sich aber etwas tun: Die Ampel-Koalition hat im Juni 2022 bereits den Paragraf 219a abgeschafft. Er regelte das sogenannte „Werbeverbot“ für Abtreibung. Aktuell wird auch der Paragraf 218 unter die Lupe genommen: Die Ampel-Koalition möchte prüfen, ob Schwangerschaftsabbrüche nicht anders, also außerhalb des Strafgesetzbuches, geregelt werden könnten. Vielleicht könnte dann der jahrzehntelange Kampf der Frauen für die Abschaffung des Paragrafen 218 enden.

Mehr über den Paragraf 218 und Schwangerschaftsabbrüche in der ARD Mediathek.

Alle Interviews stammen aus der Doku-Serie „Der Paragraf und Ich“ von Sandra Löhr und Luzia Schmid. Zusammengetragen von Marie Steffens.

Weitere Informationen zum Thema Schwangerschaftsabbruch gibt es in unserem Glossar.

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