Wunschdenken und Immobiliendeals - Russische Mittelwellen-Bestrebungen
Die in den letzten Monaten gemeldeten Bestrebungen, einige Mittelwellensender in Russland zu reaktivieren, wirken inzwischen als schlichter Versuch des staatlichen Sendernetzbetreibers, zum Kriegsgewinnler zu avancieren. Dafür scheint man selbst Immobiliendeals zurückzustellen.
Bis heute ist in keinem Fall mehr herausgekommen als zeitweise Tests. Auch der angebliche, für die Frequenz 1089 kHz genannte Inbetriebnahmetermin 1. Februar hat sich schon wieder zu einem Betriebsversuch relativiert.
Trotzdem werden jetzt noch weitere der sprichwörtlichen Säue durchs Dorf getrieben. Neuester Zugang ist die Frequenz 1215 kHz, die von der Sendestation Bolschakowo im Gebiet Kaliningrad zuletzt 2014 genutzt wurde. Hier inspirierte wohl jemanden das Ende der Belegung dieser Mittelwelle in Großbritannien.
Schon zuvor auf den Tisch gezerrt wurde die frühere, bereits 2012 abgekündigte Mittelwelle 549 kHz von Radio Majak. In Bolschakowo ist dazu die Rede von Tests über den 350 Meter hohen Langwellenmast.
Wirklich interessant wird es in Moskau. Auch hier soll es inzwischen Versuchssendungen auf 549 kHz gegeben haben, in diesem Fall mit einer Sendeleistung von 75 kW.
Das deutet auf die Sendestation Noginsk, von deren alten Anlagen noch drei Türme, ein Technikgebäude mit Rückkühlbecken und die Pförtnerhäuser auszumachen sind. Prominentestes Relikt ist der Wohnplatz Radiozentra-9: Die einstige Dienstsiedlung, benannt nach der damaligen Struktureinheit, zu der auch die 2020 eliminierte Station Elektrostal gehörte.
2006 war in Noginsk nochmals eine 217 Meter hohe Mittelwellenantenne neu aufgebaut worden. Dabei ging es darum, die bis dahin auf 549 kHz genutzte Station Tschkalowskaja bei Schtscholkowo aufgeben zu können.
Nächster Schritt war 2012 die Beschaffung eines neuen Senders aus Berlin (TRAM 100). Nur wenige Wochen nach dessen Inbetriebnahme folgte die ganz große Ernüchterung, nämlich die Abkündigung der gesamten AM-Verbreitung von Radio Majak.
Damit verblieb in Noginsk noch die Frequenz 846 kHz. Hier sendeten tagsüber das damalige Radio Podmoskowja, das Regionalprogramm für das Umland von Moskau, und abends das Radio Radonesh der russisch-orthodoxen Kirche.
2013 beendete aber auch Radio Podmoskowja seine Mittelwellenverbreitung. Für nur drei Stunden am Tag wollte das staatliche Unternehmen RTRS die Frequenz nicht mehr betreiben.
Deshalb bekam Radio Radonesh als neuen Frequenzpartner das ebenfalls im orthodoxen Glauben verwurzelte Narodnoje Radio, das seit 1998 in Moskau auf 612 kHz sendete. Ein 2006 gestarteter Versuch, die einstige Mittelwelle von Radio Leningrad (801 kHz) mit 150 kW zu nutzen, scheiterte nach wenigen Monaten an den Betriebskosten.
Ab 2017 konnte Narodnoje Radio sich auch die mit 20 kW betriebene Frequenz in Moskau nicht mehr leisten. Seit 2019 scheint das Programm nun ganz tot zu sein.
Zuvor war auf der Sendestation Kurkino bereits die Ausstrahlung des Radio Teos der Far East Broadcasting Company entfallen, da dessen Mittelwellenlizenz nicht mehr verlängert wurde. Die seinerzeit noch diskret behandelten Gründe sind inzwischen ganz offen in ein Gesetz gegen „illegale Missionstätigkeit“ gegossen.
Bereits 2015 wollte RTRS das attraktive Grundstück am Moskauer Autobahnring verkaufen. Dieser erste Anlauf scheiterte noch, da Radio Radonesh die Abkündigung des Standorts nicht akzeptierte und den Vorgang öffentlich machte.
2019 setzte RTRS die Schließung der Station jedoch durch. Damit blieb Radio Radonesh nur noch, die nun tatsächlich eingetretene „Tragödie“ zu beklagen. Sein Status als Sender der staatstragenden Kirche nützt Radio Radonesh letztlich nichts, was dessen Chef im vergangenen Jahr auch offen monierte.
Neben Radio Radonesh betraf die Schließung noch den russischen Kanal von World Radio Network, heute ein Bestandteil der Hörfunklösungen von Encompass.
Die Idee hinter WRN ist, mit Sammelkanälen den in der Vergangenheit auf Kurzwelle abgestrahlten Auslandssendungen einen neuen Verbreitungsweg zu bieten. Das damalige Unternehmen betrieb ab 1997, als Höhepunkt von 2003 bis 2010 mit stundenweiser UKW-Aufschaltung in Berlin, auch einen derartigen Kanal in deutscher Sprache.
Über die Jahre endete jedoch die Produktion eines erheblichen Teils der hier verbreiteten Sendungen. Andere Kunden sprangen ab, weil die aufgerufenen Preise nach ihrer Meinung in keinem Verhältnis zum Nutzen mehr standen. Auch die von WRN als Vorzug beworbene Zusammenfassung mit anderen Anbietern wurde zunehmend als Nachteil gesehen.
Das mündete bei „WRN Deutsch“ 2013 in die Abschaltung. Auch der weiterhin betriebene russische Kanal enthält inzwischen nur noch Harmlosigkeiten, abgesehen vom japanischen Rundfunk NHK, der bis März 2022 aber auch im Kabelnetz von Rostelekom vertreten war.
Die 2006 begonnene Ausstrahlung des russischen WRN-Kanals auf 738 kHz war deshalb bei weitem nicht so brisant, wie sie zunächst erscheinen könnte. Der – auf wrn.ru auch jetzt noch zu sehende – Abschalthinweis ist aus einem anderen Grund ganz unverfänglich gestaltet: Hinter den Kulissen wurde daran gearbeitet, den Sendebetrieb aus Noginsk wieder aufzunehmen.
Zwar waren nach der Abschaltung alle dortigen Techniker entlassen oder zu Handlangern degradiert worden. Das Technikgebäude blieb ungeheizt sich selbst überlassen. Schon 2014 war von einem undichten Dach zu hören, mit Hinblick auf den neuen Sender kommentiert mit den Worten „18 Millionen Rubel stehen im Regen“.
Trotzdem kam es im April 2021 zu Sendeversuchen auf 738 kHz. Danach war zunächst sieben Monate lang nichts mehr davon zu hören, bis WRN schließlich Klartext sprach: Die Moskauer Niederlassung von RTRS habe alle weiteren Aktivitäten untersagt.
Anscheinend wollte man sich seinerzeit auch von diesem Grundstück trennen. Es gibt keine Möglichkeit mehr dafür, in Erfahrung zu bringen, was aus diesen Bestrebungen geworden ist.
Immobiliengeschäfte mit der Infrastruktur des Rundfunks beschränken sich in Moskau dabei nicht auf Sendeanlagen. Zum Opfer gefallen ist ihnen auch das alte Funkhaus, bekannt als GDRS („Staatliches Haus für Rundfunk und Tonaufnahme“).
Das Gebäude wirkte ab 1962 im Zusammenspiel mit einem neuen Funkhaus in der uliza Pjatnizkaja 25. Mit der Inbetriebnahme des Zusatzbaus ASK-3 in Ostankino verlagerte sich der Schwerpunkt ab 1980 dann ganz zur Musikproduktion.
Diese Nutzung interessierte bei der staatlichen Rundfunkgesellschaft WGTRK ab 2017 niemanden mehr, nachdem das Kulturfernsehen Rossija K in das alte Fernsehzentrum Schabolowka umgezogen war.
Man schritt deshalb zu einem Deal mit einer Firma, die sich zwar Iswestija-Verlag nennt und 2016 auch eine Umnutzung des Redaktionsgebäudes dieser Zeitung realisierte, jedoch zur internen Verwaltung des Präsidialamts, also „des Kremls“, gehört.
Mit dieser Rochade erhielt die WGTRK unter anderem das Gebäude ihrer Zentrale. Im Gegenzug überließ die Rundfunkgesellschaft unter anderem das GDRS, für das Iswestija-Verlag keine Nutzungskonzepte hat. Das bezeugen bereits die auf einem Bildschirm im Eingangsbereich gezeigten Vermietungsangebote.
Eine Liquidierungskommission ließ ab 2018 zunächst die Regien der Aufnahmesäle 1 und 5 demontieren. Als nächster Schritt wurde der Saal 2 völlig sinnlos in ein Trümmerfeld (noch ein Foto) verwandelt.
Die Öffentlichkeit erfuhr davon durch die Tontechniker, denen geraten wurde, ihre Aufnahmen doch im Saal des Moskauer Konservatoriums zu machen – einem Raum, der Fenster zu einer belebten Straße hat. Offensichtlich bestand bei der WGTRK keinerlei Interesse an der Problematik.
Das gilt auch für die Angehörigen der Orchester und Chöre, die im GDRS probten und sich aufzeichnen ließen. Sie wollten, als nur das Wort „Präsidialamt“ fiel, nichts mehr zu der ganzen Sache sagen. Das deutet an, in welche Richtung eine allgemeine Kritik an russischen Kulturschaffenden (abseits der Extremfälle wie Waleri Gergijew) gehen könnte.
Die Verbitterung der Techniker über den Untergang des Gebäudes wuchs noch zusätzlich durch eine parallele Meldung aus Kiew: Das dortige Funkhaus ist jetzt ein Kulturdenkmal.
Im alten Jahrtausend war das GDRS noch Schauplatz eines Nachspiels, als Boris Jelzin einen weiteren Schritt zur Eliminierung der von ihm verachteten sowjetischen Institutionen tat und 1997 den Ukas „Über die Verbesserung der Struktur des staatlichen Rundfunks in der Russischen Föderation“ erließ.
Hinter diesem Euphemismus verbarg sich die Abwicklung des einstigen ersten Programms des Allunionsradios, das inzwischen griffig als Radio Odin auftrat. Das unverzeihliche Vergehen dieses Programms lag darin, von Hörerschichten bevorzugt zu werden, deren Leben in der damaligen Lage völlig aus den Fugen geriet.
Ganz so einfach abschalten lassen wollte sich die Redaktion dann doch nicht und gründete die Radio 1 AG. Zumindest Gerüchte wollten auch von einer Unterstützung durch Michail Gorbatschow wissen. Letztlich konnte die Firma jedoch nur Schulden anhäufen, bis es nicht mehr ging.
Den Beobachtern im Ausland war somit alles klar, als – immerhin erst viereinhalb Monate nach dem letzten von Jelzins berüchtigten Auftritten – die zuletzt nur noch aus Belarus betriebene Langwelle 171 kHz am Morgen des 15. Mai 2000 nicht mehr eingeschaltet wurde, an eine bekannte Formulierung erinnernd: Es wird eine Stimme weniger geben.
Zwar gibt es in Moskau inzwischen wieder ein Radio 1. Das ist jedoch nichts anderes als das frühere Radio Podmoskowja, das 2016 den vakanten Namen an sich gezogen hat.
Auf der einstigen Moskauer UKW-Großfrequenz von Radio Odin, 72,92 MHz, sendet heute Radio Radonesh. Das nützt allerdings immer weniger, da neue Rundfunkgeräte, vor allem auch Autoradios, nicht mehr für das alte OIRT-Band eingerichtet sind. Deshalb wollte man eine stundenweise Verbreitung auf Mittelwelle eigentlich parallel beibehalten.
Beitrag von Kai Ludwig; Stand vom 29.01.2023