Früherer Nachrichtenchef der Voice of America - Zensur als Thema in einer Traueranzeige

André de Nesnera
André de Nesnera | © VOA

Private Traueranzeigen sind nicht unbedingt der Ort, an dem man eine Diskussion über Zensurpraktiken erwarten würde. Den Hinterbliebenen eines früheren Nachrichtenchefs der Voice of America, André de Nesnera, ist das Thema jedoch wichtig genug, um ausführlich darauf einzugehen.

Auf der Gedenkseite, die das Bestattungsunternehmen eingerichtet hat, ist zu lesen:


» Er war [...] verantwortlich für die Berichterstattung über 9/11 und dessen Folgen sowie den Beginn des Irak-Kriegs im Jahre 2003.

Die Entscheidung zur Ausstrahlung eines Beitrags mit dem Ausschnitt eines Interviews mit Mullah Mohammed Omar, dem Anführer der Taliban, ließ den Zorn des State Department und mehrere scharfe Kommentare der New York Times auf ihn niederprasseln.

Trotz des anhaltenden massiven Drucks beharrte er auf seinem Standpunkt, dass seine Entscheidung, den Beitrag zu senden, den Grundsätzen der VOA Charter entsprach.

Für seine Zivilcourage und Integrität erhielt er 2002 den Tex Harris Award for Constructive Dissent der American Foreign Service Association und den Payne Award for Ethics in Journalism der Universität Oregon.

Doch der Fallout des Interviews mit Mullar Omar hörte nicht auf. 2004 wurde er auf den Posten des Senior Diplomatic Correspondent versetzt, wo er verblieb, bis er 2015 in den Ruhestand trat.

Das machte Furore und wurde weithin als abstrafende, politisch motivierte Degradierung angesehen. Folge war eine umfangreiche Berichterstattung der Presse, verbunden mit massiven Protesten von Nachrichtenjournalisten der VOA, des Committee to Protect Journalists und des International Press Institute.

In seinem Abschied als Nachrichtendirektor schrieb er:

„Wir müssen objektiv bleiben, weiterhin alle Seiten eines Themas präsentieren und die ganze Wahrheit sagen. Das ist die Grundlage unserer Glaubwürdigkeit. Wir können niemandem erlauben, unseren Berichten eine Tendenz zu geben, einen Fakt auszulassen, eine Meinung zu verfälschen. Die Regierung zahlt unsere Gehälter, aber sie hat niemals unser Gewissen gekauft. [...]“ «

Bei diesen Vorgängen handelte es sich nicht nur um Kritik im Nachgang. Das State Department hatte tatsächlich versucht, die Ausstrahlung der Originaltöne durch Aussprache eines Verbots zu verhindern.

Unklar blieb seinerzeit, auf welche Weise Redaktionsinterna wie das Vorliegen des Interviews dort überhaupt bekannt werden konnten. Die Verantwortlichen der VOA wiederum gerieten auch von der anderen Seite unter Druck: Mehr als 100 Redakteure drohten, geschlossen zu kündigen, wenn der Zensureingriff nicht zurückgewiesen wird.

Letztlich entschied die damalige Programmdirektorin und kommissarische Direktorin der VOA, Myrna Whitworth, eine stark gekürzte Fassung des Beitrags zu senden. Von de Nesnera seinerseits gelangte eine weitere Rundmail nach außen, in der er unter anderem schrieb:

„Ich möchte Ihnen Dank und Anerkennung für die solide Arbeit aussprechen, die Sie alle in dieser schwierigen Zeit leisten – und ich appelliere an Sie, nicht der Selbstzensur zum Opfer zu fallen. Denn dann haben ‚sie‘ gewonnen.“

Folgen hatte Whitworth nicht mehr zu befürchten: Zu diesem Zeitpunkt bereits besiegelt war ihre Ablösung durch Robert Reilly – eben jenen Robert Reilly, der die VOA schon 2002 wieder verließ und in den letzten Wochen der Präsidentschaft Trump noch einmal kurz zurückkehrte. Degradiert wurde de Nesnera somit bereits vom nächsten Direktor der VOA.

2007 plauderte Myrna Whitworth noch aus dem Nähkästchen der grundsätzlichen Entscheidungen zur Gestaltung der Programmarbeit für die arabische Welt.

Idealisierung ist auch sonst nicht angezeigt. So gab es 2001 Berichte aus Afghanistan, laut denen die VOA und auch die BBC dort dramatisch an Glaubwürdigkeit einbüßten. Nach Meinung des bisherigen Publikums hatten beide Sender unliebsame Teile der Wirklichkeit, inbesondere die zivilen Opfer der Angriffe „ihres“ Militärs, systematisch ausgeblendet.

Einen anderen Aspekt nannte der gerade in die Schlagzeilen zurückgekehrte Yanis Varoufakis in einem Meinungsbeitrag. Dessen Ausgangspunkt sind die fast schon vergessenen oder verdrängten, rechtsgerichteten Diktaturen, die nicht in ferner Vergangenheit, sondern bis Mitte der 70er Jahre in Portugal, Spanien und Griechenland herrschten.

Wie Varoufakis beschreibt, ist ihm die VOA als Unterstützer des Obristen-Regimes nachdrücklich in Erinnerung geblieben. Besonders unangenehm aufgefallen sei diese Linie im Vergleich mit den ausgesprochen kritischen Sendungen von Deutscher Welle und BBC.

 

Beitrag von Kai Ludwig; Stand vom 07.01.2024