Kommentar von Harald Welzer - Soll es verpflichtende Gedenkstätten-Besuche von Schülern geben?

Harald Welzer © imago images/Future Image/Dwi Anoraganingrum
imago images/Future Image/Dwi Anoraganingrum
Harald Welzer | © imago images/Future Image/Dwi Anoraganingrum Download (mp3, 10 MB)

Heute vor 80 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Der Ort, an dem die Nationalsozialisten eines ihrer schlimmsten Vernichtungslager mit mehr als einer Millionen getöteter Menschen errichtet haben. Seit 20 Jahren ist der 27. Januar bundesweit Holocaust-Gedenktag - ein Tag an dem der Opfer der Nazis gedacht wird, nicht nur im polnischen Auschwitz, sondern auch in vielen anderen Gedenkstätten in Deutschland. Doch wie sieht es heute, 80 Jahre nach dem Ende der Nazi-Zeit, hierzulande aus mit dem Gedenken an die Opfer der Nazi-Verbrechen? Zeitzeugen gibt es noch, die davon berichten können, aber sie werden weniger. Sollten alle Schülerinnen und Schüler einmal in ihrem Schulleben verpflichtend eine Gedenkstätte besucht haben?

Politisch-historische Bildung sollte nicht nur darauf abzielen, dass man Formeln wie "nie wieder" nachsprechen kann, meint Harald Welzer in seinem Kommentar. Sie sollte helfen, Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit in der Gegenwart zu erkennen und Wege aufzeigen, wie man dagegen vorgeht. Gutes Gedenken erfordert eine wache Wahrnehmung von unguten Prozessen. Schülerinnen und Schüler haben konkrete Erfahrungen mit Mobbing, Shaming und Ausgrenzung. Diese Erfahrungen können genutzt werden, um nachvollziehbar zu machen, wie Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Vernichtungsprozesse entstehen. Der Holocaust begann nicht in Auschwitz, sondern mit der antijüdischen Gesetzgebung 1933. Diese Lehre ist für die Gegenwart von großer Bedeutung.

Welzer kritisiert aktuelle politische Äußerungen, die am Auschwitz-Gedenktag Einschränkungen des Asylrechts fordern. Er erinnert daran, dass das Asylrecht im Grundgesetz aufgrund der deutschen Menschheitsverbrechen verankert ist. Die Verbindungen von Geschichte zu Gegenwart herzustellen, ist essenziell für eine fundierte politisch-historische Bildung.

Harald Welzer ist Soziologe, Sozialpsychologe und Publizist.

Hinweis: Kommentare stellen grundsätzlich eine Meinungsäußerung der Kommentator*innen dar und entsprechen nicht automatisch der Einschätzung der Redaktion.

Jakob Augstein © Franziska Sinn
Franziska Sinn

radioeins- und Freitag-Salon | 27.01.25 | 20 Uhr - Jakob Augstein im Gespräch mit Jens-Christian Wagner: "Wie gefährdet ist die Erinnerungskultur?"

Am 27. Januar 2025 jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee zum 80. Mal. Es ist ein Ort, der das Grauen des Holocaust symbolisiert wie kein zweiter. Mehr als eine Million Menschen wurden hier von den Nationalsozialisten ermordet, der Großteil davon Juden. Seit vielen Jahren ist der 27. Januar in der Bundesrepublik offizieller Gedenktag. Gleichzeitig florieren im Netz die Verschwörungstheorien über die angebliche „Auschwitz-Lüge“. Woher kommt der Hass dieser Menschen?

Harald Welzer © imago images/Future Image/Dwi Anoraganingrum
imago images/Future Image/Dwi Anoraganingrum

Zur Person - Harald Welzer

Harald Welzer kam 1958 in Bissendorf bei Hannover zur Welt. Er studierte Soziologie, Politische Wissenschaft und Literatur. Später promovierte er in Soziologie. Noch ein bisschen später habilitierte er in Sozialpsychologie und Soziologie.