Interview - Jarvis Cocker präsentiert sein Buch "Good Pop, Bad Pop"
Pulp-Sänger Jarvis Cocker hat den Speicher ausgemistet, sich dabei an Leben erinnert – und dann ein Buch darüber geschrieben. radioeins-Literaturagent Thomas Böhm hat ihn auf der Frankfurter Buchmesse getroffen.
Ein Heft mit erfundenen und wahren Geschichten über die Raumfahrt. Ein Packung Kaugummis. Das erste Second Hand-Hemd, das er auf einem Flohmarkt kaufte. Die Gitarre, die ihm ein Freund seiner Mutter schenkte. Ein Schulheft, in dem er sich 15jährige eine Karriere als Popstar ausmalte. All das Dinge, die Jarvis Cocker jahrzehntelang auf einem Speicher aufbewahrte – und vergessen hatte. Bis die Idee entstand ein Buch über sein Leben zu schreiben. Also mistete der Sänger der legendären Band Pulp den Speicher aus – und erinnert sich beim Anblick der Gegenstände an seine Kindheit und Jugend in Sheffield und sein Werdegang zum Künstler.
radioeins-Literaturagent Thomas Böhm hat mit Jarvis Cocker auf der Frankfurter Buchmesse gesprochen.
Das komplette Interview in englischer Sprache:
Thomas Böhm: Jarvis Cocker, Sie erzählen in ihrem Buch die Geschichte, wie Sie als Junge Ihre Mutter überredet haben, sich mit Ihnen im Kino Stanley Kubricks „2001 -Odyssee im Weltraum“ anzuschauen. Sie schreiben: Sie verstanden den Film nicht, nahmen aber den Gedanken mit, das Leben wäre ein episches Abenteuer, das niemand wirklich versteht. Wie hat dieser Gedanke Ihr Leben geprägt?
Jarvis Cocker: Vielleicht hat der Film dazu beigetragen, mir die Idee einzuflößen, das Leben sei ein Abenteuer, von dem man nicht weiß, wohin es führt.Deswegen bin ich froh, ihn gesehen zu haben. Denn bei der Durchsicht all der Sachen da auf dem Spreicher wurde mir bewußt: Manche Ideen können einen schon als Kind erreichen. Und dann betrachtet man sie als Teil seiner selbst, weil man sie so lange mit sich herumträgt.
TB: Inwiefern war denn das Projekt Ihres Buches, den Speicher aufzuräumen, Dinge aus ihrer Kindheit und Jugend anzuschauen, ein Versuch, Ihr Leben zu verstehen?
JC: Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, mein Leben zu verstehen. Aber dieser Speicher hat mir einen anderen Blick auf mein Leben eröffnet. Ich war ein bisschen besorgt am Anfang… ich hatte diese Dinge so lange mit mir rumgeschleppt. Von Sheffield nach London, durch verschiedene Wohnungen. Und ich habe das nie hinterfragt. Ich dachte, ich müsste diese Dinge behalten. Aber sie lagen da einfach in Säcken auf dem rum und staubten ein.
Wissen Sie: Ich bin immer wieder aufgefordert worden, ein Buch über mein Leben zu schreiben, besonders als die Band auf dem Höhepunkt ihrer Berühmtheit war. Aber ich konnte mir das nie wirklich vorstellen. Das klang für mich langweilig. Zu den Sachen, die da auf dem Speicher lagen, gehört vieles, was ich damals geschrieben habe. Sogar ein Heft, in dem ich einen Masterplan für eine Band namens Pulp entworfen habe. Aber das Geschriebene von damals war mir nicht so wichtig. Die Dinge, die ich wiedergefunden habe, weckten auf lebendige Weise Erinnerungen. Und sie warfen ein anderes Licht auf mein Leben und machten es mir möglich, darüber zu schreiben.
TB: Wenn Sie über das erste Second Hand-Hemd schreiben, das sie gekauft haben. Über die Disco in Sheffield, in der Sie jahrelang tanzen waren. Wenn Sie über das Tanzen selbst schreiben, dann steigen bei uns Lesenden Erinnerungen an eben solche Momente in unserem eigenen Leben auf. Wie wichtig war es Ihnen, Geschichten zu schreiben, mit denen sich die Lesenden auf so einfache Weise verbinden können?
JC: Das war sehr wichtig. Das ist für mich wie beim Schreiben von Songs. Ich wollte immer ein Popstar sein, kein Rockstar. Ich wollte Hits haben. Weil ich mich mit anderen Menschen in Verbindung setzen wollte. Und zwar mit möglichst vielen Menschen, nicht nur einer bestimmten Gruppe.
Was mich an der menschlichen Existenz fasziniert ist: wir alle schauen auf die gleiche Welt, und schaffen doch in unserem Verstand jede und jeder für sich ein anderes Bild von dieser Welt.
Ich denke, fast jeder Mensch hat ja so eine Sammlung von Dingen. Nicht unbedingt einen ganzen Speicher voll wie ich. Wobei ich auf meiner Lesereise viele Leute getroffen haben, die mir erzählt haben, dass sie noch viel mehr Sachen aufbewahrt haben.
Also: fast jeder hat so eine Sammlung. Und sei es nur in den Taschen des Mantels, den man ein Jahr lang nicht getragen hat und dann zum ersten Mal wieder anzieht. Und am Inhalt der Taschen erkennt, bei welcher Gelegenheit man ihn das letzte Mal anhatte.
TB: Ein Gedanke, der mir beim Lesen kam: Ich erinnerte mich an das Buch von Irmgard Keun: „Das Kunstseidene Mädchen“. Darin gibt es eine Stelle, da betrachtet die Titelfigur, die davon träumt, ein Star zu werden, eine reiche Frau. Bewundert nicht nur deren teure Garderobe, sondern auch die Möglichkeiten des Geldes, die diese Frau ausstrahlt. Und denkt dann: Verglichen mit ihr, sah ich „so schwer verdient“ aus. So billig. Hatten Sie bei der Durchsicht der Dinge Ihres Lebens, die ja auch viel billiger Kram sind, einen ähnlichen Moment?
JC: Ehrlich gesagt: Alles in diesem Speicher ist Müll. Aber das fand ich schließlich ermutigend, bestärkend. Das ist die Kraft der menschlichen Kreativität. Dass man etwas nehmen kann, das eigentlich wertlos ist und ihm einen nahezu unschätzbaren Wert geben.
Im Buch erzähle ich zum Beispiel von einem Stück Seife, von dem eigentlich nur noch der Labelaufkleber übrig ist, an dem ein Seifenrest klebt. Wirklich ein widerliches Objekt, das eigentlich im Mülleimer liegen sollte. Als ich die ersten Präsentationen des Buches hatte, wollte ich diesen Seifenrest mitnehmen. Und fand ihn nicht mehr. Ich dachte, jemand hätte ihn für ein Foto ausgeliehen und konnte den Gedanken nicht ertragen, dieses schäbigen Seifenrest verloren zu haben.
Ich hatte gehofft, das Schreiben des Buches würde es mir ermöglichen, all diese Dinge wegzuschmeißen und wie ein Zen-Buddhist ohne materiellen Kram auszukommen. Und dann wurde mir bewußt, dass ich jetzt noch mehr an dem Kram hänge als vorher.
TB: 40 Kapitel enthält Ihr Buch. Und Pulp Fans werden in den Geschichten, die Sie erzählen, Elemente wiederfinden, die in Ihre Songs eingegangen sind. Sie betonen aber immer wieder, nicht über den kreativen Prozess sprechen zu wollen. Darüber, wie Songs entstehen. Weil – wie Sie sagen – Zauberkünstler ihre Tricks ja auch nicht verraten. Ich möchte Sie nicht auffordern, was zu verraten… aber warum lässt sich das Songschreiben mit Magie vergleichen?
JC: Ich behaupte nicht, ein Kunstwerk zu schaffen sei Trickserei. Ich weiß es von meinen Liedern, bei denen 50 % auf einer wirklichen Erfahrung beruhen. Und der Rest ist ausgedacht. Bei manchen sind sogar nur 10 % erlebt und 90 % erfunden. Das Verhältnis verändert sich. Und das ist das Geheimnis: weil die Leute denken, es sei alles wahr, authentisch. Dabei ist immer etwas erfunden.
Aber ich entscheide, wie groß das Verhältnis ist und wie weit ich die Wahrheit strapaziere und mir selbst weißmache, es sei noch die Wahrheit. Denn man muss seine Sachen selbst glauben. Sonst fallen sie auseinander, wenn man sie irgendwo vorstellen will. Performen oder an die Wand hängen.
TB: Wir haben ja eingangs über Ihre Liebe zur Science Fiktion gesprochen. Wenn Sie eine Zeitmaschine bauen und zurück in die Zeit reisen könnten. Nach Sheffield. Und Ihrem jüngeren ich begegnen. Was wäre Ihr Rat an sich selbst?
JC: Nichts Großartiges. Ich würde ihm sagen: 'Entspann Dich ein bisschen und sei nicht so verklemmt.' Das war vielleicht auch ein Grund, warum ich das Buch schreiben wollte.
Wenn ich auf Tournee war, haben mich oft jüngere Menschen angesprochen und mich gefragt, wie sie Künstlerinnen oder Künstler werden können.
Ursprünglich sollte es im Buch noch viel mehr um das Künstler-Werden gehen. Weil ja jeder Mensch pausenlos kreativ ist. Denn – wie ich schon sagte – wir haben alle unseren eigenen Blick auf die Welt, und die Herausforderung ist, daraus etwas zu machen.
Das Buch endet ja damit, dass ich aus einem Fenster stürze und hart auf den Boden aufschlage. Das war wirklich so etwas wie ein Ankommen in der Realität. Ich habe verstanden, dass ich über das schreiben musste, was mich umgab. Und nicht darauf warten, dass von irgendwoher eine höhere Eingebung kam. Einfach meine Lebenswelt genau anschauen – darin war ja alles enthalten. Ich musste es nur in allen Details und angemessen beschreiben, dann würde es etwas in den Menschen auslösen. Und das habe ich seit diesem Tag versucht. Das ist es, was man machen muss.