Album der Woche - "Golden Years" von Tocotronic

Das 14. Studioalbum der Band mit den Songs, die das größten Diskurspotential besitzen, heißt "Golden Years" und ist dennoch nicht nostalgisch.
"Denn Sie wissen, was sie tun" heißt die erste Single, mit der das neue Album angekündigt wurde. Ein großes Statement, dieser Song, geschrieben von der Band als die Umfragewerte der AfD erstmals über 20 Prozent gingen. Ein Song, der den Mythos des harmlosen Protestwählers sprengt und darauf aufmerksam macht, dass es eine Niedertracht in diesem Land gibt, die, wie Sänger Dirk von Lowtzow es ausdrückte, "den Willen aufbringt, eine gewaltbereite Gefolgschaft zu züchten". Mit diesen aufrüttelnden Worten wird das neue Album angekündigt, das dann aber auch Zärtlichkeit und Versöhnliches kennt.
Tocotronic gibt es mittlerweile über 30 Jahre lang und der Albumname "Golden Years" klingt nach Nostalgie. Das wiederum ist etwas, womit man die Band Tocotronic überhaupt nicht assoziiert. Der Titel ist wohl so reizvoll, so Dirk von Lowtzow, weil er so herrlich ambig ist: "Ach, der Titel ist natürlich immer ein Aushandlungsprozess in der Band, auch zusammen mit unserem Produzenten Moses Schneider. Und wir fanden "Golden Years" ist ein schöner Titel, weil er ein offenes System markiert. Es ist ein doppelsinniger Titel, wie wir das schon oft hatten und wir mögen diese Doppelsinnigkeit, weil sie immer einen Raum für mögliche Bedeutungen lässt. Für den einen ist das vielleicht sarkastisch angesichts der finsteren Zeiten, in denen wir leben. Für den anderen ist es vielleicht ein Hoffnungsschimmer, für den nächsten ist es vielleicht lustig im Sinne von "Golden Years" als Euphemismus fürs Rentenalter. Wir sind ja lang schon dabei und ein Rockjahr sind 7 Menschenjahre hatten wir auch schon ein paar Mal gesagt, so bisschen wie beim Hund ... Es gibt also da verschiedene Ebenen."
Die Band hat schon mehrere Zäsuren erlebt: Es gab das 10., das 20., das 25. und 30. Bandjubiläum und zum diesem gab es den ARD-Podcast "This Band is Tocotronic" - einen mehrteiligen Podcast, der äußerst aufwendig produziert wurde (und der auch weiterhin in der ARD Audiothek zu hören ist). Wie lebt es sich mit diesen Jubiläen eigentlich? "Also ich kann nur für mich antworten, wie es mir mit solchen Zäsuren, Jubiläen und ähnlichem geht", sagt Dirk von Lowtzow, "und ich muss ganz ehrlich sagen, ich mach mir nicht so viel draus und ich lebe auch nicht so sehr in der Vergangenheit, also dass mir das jetzt immer präsent ist. So etwas wie der Podcast, den wir gemacht haben mit dem rbb und der Podcast Hoster Stefanie Groß, das war schon etwas sehr Besonderes, denn das war natürlich das Geschick von Stefanie Groth, dass sie uns zu Einzelgesprächen gerufen hat. Und die jeweilige Sicht auf die Zeit von jedem von uns divergiert natürlich ein bisschen und da gab es dann schon Überraschungen. Wie hat sich jemand zu dieser Zeit gefühlt? Ich meine, natürlich haben wir immer alles voneinander gewusst, ungefähr, aber dann doch nicht so zur Gänze und in dieser Intensität. Und ich glaube, das Setting oder die Art, wie die Gespräche geführt wurden, führte dazu, dass man da sehr, sehr offen gesprochen hat, sehr unverstellt und nicht so strategisch."
So wird also verständlich, warum so viele Menschen unter diesem Podcast posten, wie toll sie ihn finden und wie viel ihnen die Musik von Tocotronic bedeutet. So richtig bewusst sei ihm das nicht, meint Dirk von Lowtzow. Also, was seine Musik den Menschen bedeutet, aber er habe schon klare Vorstellungen davon, was die Menschen aus ihrer Musik ziehen können: "Wenn unsere Lieder irgendwie sowas wie eine Werkzeugkiste sind, woraus sich Leute etwas nehmen, sich irgendwie selber was zusammenbasteln können und das irgendwie auf ihr Leben übertragen können, das wäre mein Wunsch, dass sowas passiert. Das würde mich sehr sehr glücklich machen. Also es sind Angebote und die kann man annehmen, man kann auch nur Teile davon annehmen, selber damit irgendwie kreativ umzugehen, das würde ich mir wünschen."
Hört man den Songtext zu "Wie ich mir selbst entkam" vom neuen Album, denkt man fast, Dirk von Lowtzow beschreibt die erste Begegnung mit den Bandmitgliedern Jan Müller und Arne Zank. Damals in Hamburg, als sich ihre Wege schicksalhaft trafen und etwas Neues für alle Drei beginnen sollte: "Ich finde das eine wirklich wunderschöne Deutung", sagt Dirk, "auf die ich selber nicht gekommen wäre. Und ich glaube, das ist das Geheimnis von Popmusik überhaupt im Allgemeinen und vielleicht auch von unseren Liedern, dass sie Gefäße sind und die Hörenden können da etwas reintun, und das ist wirklich eine aktive Arbeit. Nur so entstehen wirklich diese Popsongs als die Wesenheiten, die sie sind. Die können nicht alleine denken, diese Songs, die können nur mit anderen denken, deshalb brauchen sie auch andere Songs auf dem Album, sie brauchen aber auch die Leute, die ihre Gedanken dazutun und ich bin jetzt total baff, denn ich find es eine wunderschöne Bedeutung. Ich wäre selber nicht draufgekommen. Aber klar, das war so, man hat sich durch Zufall getroffen, aber dadurch, dass man so ineinander gefallen ist in Liebe gefallen ist, wie man sagen würde "to fall in Love", hat man diesen Zufall irgendwie in etwas Schicksalhaftes fixiert und das hat natürlich unser aller Leben verändert."
René Pollesch war im Februar 2024 plötzlich verstorben und am 25. April 2024 gab es einen Gedenkabend in der Volksbühne, an dem Dirk von Lowtzow unter vielen anderen Weggefährt*innen auftrat. An jenem Abend erklärte Dirk, dass der Songtext für den Tocotronicsong "Im Zweifel für den Zweifel" nach den langen, befruchtenden Gesprächen mit Pollesch entstanden war, die ihn stets inspiriert haben. Nun waren René Pollesch und Dirk von Lowtzow sehr gut befreundet, und natürlich hat sein Tod auch die Entstehung des neuen Albums – überschattet. Doch, so wie den Titel des Albums, so kann man die ganze Platte durchaus verschiedenartig auffassen – in ihrer Stimmung: "Es changiert", meint Dirk von Lowtzow, "je nach Blickwinkel. Ich war Zeit meines Lebens eigentlich immer ein ziemlich stabiler Pessimist und für mich hat das Album etwas sehr, sehr Dunkles und teilweise auch sehr Trauriges, auch weil viele traurige Ereignisse verarbeitet sind, so wie der Tod Polleschs. Ich habe oft mit Arne und Jan danach gefragt und für sie hat das Album auch etwas sehr Erbauliches oder Hoffnungsvolles. Da gibt's viel Licht und auch viel Witz. Das finde ich interessant."
Ein Song, der direkt vom Verlust kündet, ist "Der Tod ist nur ein Traum". "Das ist ein Lied", sagt von Lowtzow, "für jemanden geschrieben, der eine sehr nahestehende Person, den geliebten Menschen, verloren hat. Der Song soll Halt und Trost bieten, denn ich glaube schon, dass Musik Trost bieten kann, vielleicht von allen Künsten, die es so gibt, am besten." Ein Song, bei dem man genauer hinhört, denn es wurde textlich ein Fallstrick eingebaut, und zwar das kleine Wörtchen "fast" in dem Satz "Du kannst mir fast vertrauen". Es müsste eigentlich "fest vertrauen" heißen, denn Vertrauen ist wohl eher etwas Absolutes. Durch das "fast" kommen wir beim Hören ins Stolpern und wir hören genau zu.
"Mein unfreiwillig asoziales Jahr" greift mit der Zeile "sitzen und hassen, nicht von dir lassen" ein Thema auf, das in Tocotronicsongs nicht gerade eine Seltenheit ist. Hassgefühle werden immer wieder erwähnt. Schon auf ihrem ersten Album "Digital ist besser" heißt es in dem Song "Freiburg": Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse, Fahrradfahrer, Backgammon Spieler, Tanztheater dieser Stadt". Selbstverständlich werden auch andere Gefühle besungen, aber immer wieder bricht sich auch der Hass Bahn, könnte man so sagen. Beim letzten Album in dem Song "Ich hasse es hier", auf dem neuen Album in dem Song "Mein unfreiwillig asoziales Jahr". Hier geht es um die Gedanken einer durch und durch passiv-aggressiven Person, die sich der Welt nicht mitteilen, sondern nur eingeschnappt sein will. Dazu Dirk von Lowtzow: "Ja, ich glaube, Hass ist eine sehr starke Emotion. Ich finde man, man muss das als Teil der Persönlichkeit behandeln. Das ist natürlich nicht schön, man muss das sehr kritisch sehen. Diesen Hass, also ich würde ihn nicht affirmieren. Durch solche schrecklichen Bewegungen wie "Wutbürger" oder durch das Aufkommen von Affektpolitik und so ist das alles in ein sehr zwielichtiges Fahrwasser geraten, aber ich find man muss es ab und an mal bringen und kann es auch wohl dosiert bringen, weil es eben schon ein Teil von unserer menschlichen Persönlichkeit ist. Jeder kennt dieses Gefühl. Irgendwie steckt das so im Hals und drückt einem so die Stimme weg und das ist sehr, sehr gefährlich, finde ich. Hass, Ressentiment, Bitterkeit, aber es ist besser, das alles sozusagen in Liedern auszuleben und teilweise offen anzusprechen, als es runter zu schlagen."
Als Maßnahme, den Diskurs zu starten, oder besser noch, den Diskurs offenzuhalten, sowieso. Denn das ist im Grunde wichtiger, denn je in unserer Gesellschaft, die geprägt von tiefen Gräben und Spaltung ist. Gespräche zu zulassen und anzubieten. Am besten so ehrlich wie möglich, auch und gerade, wenn es sich um Hassgefühle oder Ablehnung dreht. Möglicherweise das Einzige, was uns noch retten kann.
Der Titelsong, den Dirk von Lowtzow musikalisch als "Toco-Country-Song" klassifizierte, also als Countrymusik, wie sie eben Tocotronic spielen würden, der hat dann doch noch etwas Sentimentales. Tocotronic haben mit Nostalgie nichts am Hut, auch dem neuen Album ist sie nicht anzuhören, auch wenn die Songs unter anderem um Vergänglichkeit und das Altern kreisen. Sie bleiben doch im Ganzen deutungsoffen. Das Sentiment, das durch den Titelsong weht, nennt Dirk von Lowtzow "vorauseilende Wehmut", denn der Song berichtet aus der Gegenwart. Er greift den Gedanken auf, dass man sich gewahr wird, wie gut man es gerade hat und dass man zugleich befürchtet, dass das nicht so bleibt. Inspiriert wurde der Song durch einen Musiker, den Dirk erst kürzlich entdeckt hat. "Es gibt ein wunderschönes Lied von einem ostdeutschen Liedermacher namens Gerhard Schöne. Das heißt "vielleicht wird es nie wieder so schön" und das hatte mir unsere Freundin und ehemaliger Support Act Nichseattle, Katharina Kollmann, vorgespielt. In einer wunderschönen Version, die sie selber aufgenommen hat, und das hat mich sehr, sehr gerührt. Ich glaube, von diesem Lied, von dieser Aussage "vielleicht wird es nie wieder so schön", davon steckt viel in dem Lied "Golden Years".
Das neue Tocotronicalbum "Golden Years" ist ein Album, so könnte man meinen, das ohne die Slogans auskommt, für die ihre frühere Alben durchaus bekannt waren. Slogans wie: "Aber hier leben, nein danke", oder "sag alles ab", "Ich bin schon viel zu lang mit euch mitgegangen" oder natürlich "Pure Vernunft darf niemals siegen". Diese Slogans gibt es nicht unbedingt auf dem neuen Album, andererseits zeigt es sich ja eh immer erst später, welche Songtitel zu Slogans werden. Das Stück "Vergiss die Finsternis" könnte ein Anwärter sein. Vielleicht aber muss man auch sagen, leben wir nicht in der Zeit, in der Slogans so wertig sind. Unsere gesellschaftlichen Probleme sind komplex, einfache Antworten gibt es nicht. Den Diskurs zu starten bzw. aufrechtzuerhalten, ist vielleicht einfach wichtiger und das schaffen die neuen Songs von Tocotronic auf jeden Fall. Sie sind erzählerischer geworden, meint Dirk von Lowtzow. Die neuen Songs sind eine Art Mikrolebensdramen. Ein ganzes menschliches Drama in allen Akten auf Songlänge. Nun, erzählerische Songs wecken Empathie und auch die können wir gut gebrauchen momentan.
Zuletzt fügt Dirk von Lowtzow indessen noch ein Bekenntnis hinzu: "Manche Sachen kann man besser singen als sprechen, vor allem, wenn es um Ängste und Zwänge und derlei mehr geht." Und über manche Dinge kann man dazu, wie wir wissen, eh nur auf Englisch singen.
Claudia Gerth, radioeins