Radioday "Gedichte" - Mark Yakich
Eine Idee vermitteln, die auf die übliche, verständliche Weise nicht vermittelbar ist: Gespräch mit Mark Yakich über seine "bescheidenen Vorschläge zum Überdenken der seltsamen Tätigkeit des Lyriklesens"
"Wenn sie nicht zufällig von einem Promi vorgetragen, als Songtexte vertont, von Bildern begleitet oder von unseren eigenen Kindern verfasst werden, sind Gedichte ausgesprochen schlecht darin, sich zu verkaufen. (…) Aber was, wenn die hohe Kunst des Gedichte-Lesens am Ende gar nicht so hoch ist? Was, wenn das eigentliche Problem mit Gedichten unsere gutgemeinten, aber falschen Annahmen davon sind, wie man sie lesen soll?"
Aus diesen Beobachtungen heraus hat Mark Yakich, selbst Dichter, Romanautor, Maler und Professor an der Loyola Universität in New Orleans 20 "bescheidene Vorschläge zum Überdenken der seltsamen Tätigkeit des Lyriklesens“ entwickelt. Über diese Vorschläge sprach radioeins-Literaturagent Thomas Böhm mit Mark Yakich zum radioday "Gedichte“.
Thomas Böhm: Gleich den ersten Vorschlag finde ich besonders einleuchtend. Wir sollen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Gedichte unser Leben radikal verändern können. Woher kommt wohl diese Vorstellung? Und was können wir gegen sie tun?
Mark Yakich: Ich glaube, wir haben diese Vorstellung, zumindest in den USA, dass Poesie etwas Besonderes ist. Und ich bin jemand, der gerne mit vorherrschenden Vorstellungen aufräumt. Einer dieser Ansprüche ist, dass Poesie unser Leben verändern wird.
"Du musst dein Leben ändern", heißt es ja in einem Gedicht von Rilke.
Aber, wenn man ein Gedicht liest – seien wir realistisch: Wird es unser Leben wirklich verändern?
Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse über Poesie verdanke ich Andrei Codrescu, einem rumänisch-amerikanischen Schriftsteller. Er war der Erste, der mir sagte: "Dichter sind subversiv." Und das schließt ein, die Vorstellung zu untergraben, dass Poesie etwas Besonderes ist. Vielleicht ist sie etwas Besonderes, aber diese Vorstellung zu untergraben, ist nichts Schlechtes.
Sie sprechen in Ihren Ratschlägen eine Erfahrung an, die ich auch von mir bestens kenne: "Wenn man ein Gedicht liest, ist man (bewusst oder unbewusst) permanent auf der Suche nach einer Ausrede, um das Gedicht beiseite zu legen, ein neues Gedicht anzufangen oder etwas ganz anderes zu tun." Sie raten: "Widersteh diesem Drang, so gut es geht. Stell es dir vor, als seist du ein Buddhist, der eine hartnäckige Mücke betrachtet." Was kann denn dann passieren?
Ich habe beobachtet, dass ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe, dass wenn ich einen Gedichtband in die Hand nehmen, ich nach einem Gedicht suche, das mir auf Anhieb gefällt.
Ich habe dann aber die Erfahrung gemacht, dass es interessanter ist, bei einem Gedicht zu bleiben, bei dem ich intuitiv das Gefühl habe, es nicht zu mögen. Und zu sehen, was es mir eröffnet. Mit anderen Worten: neugierig sein, anstatt zu bewerten.
Und ich denke, das ist Teil des Buddhistischen, ähnlich wie bei der Mücke: Was kann die schon anrichten? Seien wir neugieriger auf die Mücke. Sie mag lästig sein, aber sie wird nicht so viel Schaden anrichten. Betrachten wir also ein Gedicht und finden am Ende vielleicht immer noch nichts daran, was uns anspricht - was ist schon schlimm daran?
Die meisten Gedichte sind eh kurz. Wir haben also nur fünf Minuten gebraucht. Zehn Minuten. Und das scheint mir eine gute Zeitverwendung zu sein. Eine Ausbremsung. Ich denke, gerade heutzutage ist alles, was uns ausbremst und von unserem Handy wegzieht, eine gute Sache.
Aus welcher Erfahrung heraus haben Sie denn folgenden Ratschlag formuliert: "Wenn du ein Wort nicht kennst, dann schlag es nach oder stirb!"?
Das sind wir wieder beim Telefon. Aber bei seinem sinnvollen Gebrauch. Dank des Internets können wir jedes Wort nachschlagen, in Sekundenschnelle. Meine Studenten aber – für die ich ja diese 20 Strategien zum Gedichtelesen formuliert habe – tun das nicht. Also musste ich etwas übertreiben und ihnen sagen: "Hört zu, wenn ihr nichts anderes aus meinem Unterricht mitnehmt, dann möchte ich, dass ihr wenigstens das tut: Wenn ihr ein Wort nicht kennt, schlagt es nach oder sterbt."
Kommen wir vom Sterben zum Sex. Mark Yakich, sie schreiben: "Jedes Lesen sollte lustvoll sein: Ähnlich wie Sex kann es mal mehr, mal weniger Lust bereiten, aber am Ende geht es eben auch nicht nur um Lust." Welche Lust kann denn das Lesen von Lyrik bereiten – und um was über diese Lust hinaus kann es gehen?
Ich glaube, wir haben die Vorstellung, dass einzig und allein Freude Glück ist. Freude gibt mir ein gutes Gefühl. Und deshalb verlangen wir von Gedichten, dass sie uns ein gutes Gefühl geben. Oder, dass sie uns ein bisschen betrübt machen.
Poesie kann tatsächlich etwas bieten, was weit darüber hinausgeht: Ambiguität. Widersprüchlichkeit. Unsicherheit. Zumindest im amerikanischen Englisch werden Widersprüchlichkeit und Unsicherheit manchmal so verwendet, als seien sie dasselbe.
Aber eigentlich geht es bei Widersprüchlichkeit darum, zwei einander gegensätzliche Ideen nicht gegeneinander auszuspielen. Nicht das eine dem anderen vorzuziehen. Es gibt also zwei Vorstellungen, die ich gleichzeitig im Kopf haben kann.
Ich verdeutliche das gerne mit dem Gedicht "Small Song" von Archie Ammons. Das besteht nur aus zwei Zeilen:
The reeds give way to the wind
and give the wind away.
Also:
Das Schilf gibt dem Wind nach
und gibt den Wind ab.
Was passiert da also? Das Schilf gibt dem Wind nach… Es biegt sich.
Aber das Schilf gibt auch den Wind ab. Ohne das Schilf wäre der Wind nicht sichtbar.
Wir können also beides gleichzeitig denken. Und das ist ja nur ein kleines Wortspiel.
Ich kann auch noch ein unangenehmeres Beispiel geben. Von Henry David Thoreau, aus seinem Tagebuch. Da schreibt er davon, dass eine Leiche in einem Fluss gefunden wird. Und formuliert das so, dass "dem Bach ein Schaden zugefügt wurde".
Es geht darum, dass die Leiche den Bach verschmutzt. Einerseits stimmt das natürlich, andererseits ist der Mensch, der da gefunden wurde, jemandes Bruder gewesen, jemandes Sohn, Vater. Und für die Familie ist das ein schrecklicher Verlust. Auch hier herrscht also eine gewisse Zweideutigkeit. Man kann beides gleichzeitig im Kopf haben.
Nun würden manche sagen: Was Thoreau da schreibt, sei gefühllos. Ich würde antworten: "Nein. Es lässt uns etwas fühlen, was wir normalerweise nicht fühlen würden".
Mark Yakich, ich zitiere Sie noch einmal: "Ein Gedicht kann sich anfühlen wie ein verschlossener Safe, der seine eigene Zahlenkombination in sich verschließt. Mit anderen Worten: Es ist völlig okay, wenn du ein Gedicht nicht verstehst. Und manchmal kommt das Verständnis nie. So ist das im Leben: Verwirrung und Verwunderung überwiegen zumeist."
Da fragt man sich doch aber: warum schreibt jemand etwas, das andere nicht verstehen können?
Schon in meiner Jugend hat mich diese Frage beschäftigt. Die Lehrer schienen immer das fehlende Puzzleteil zu kennen. Sie hatten die Schlüssel zum Verstehen der Gedichte.
Und ich fragte mich – genau wie Sie – warum schreibt jemand so?
Als ich mich mehr mit dem Lesen von Gedichten beschäftigte und mich zum Lyrikleser bekehrte, erkannte ich, dass die Verwirrung oder Komplexität eigentlich dazu führt, dass man die Dinge etwas verzerrt sieht. Anders.
Die Dichterin Emily Dickinsons formulierte die berühmte Zeile: "Tell all the truth but tell it slant." Also: "Sag die ganze Wahrheit – aber sag sie schräg."
Lyrik ist manchmal kompliziert, unverständlich, unzugänglich. Vielleicht, um uns eine Idee zu vermitteln, die auf die übliche, verständliche Weise nicht vermittelbar ist.
Wenn man erst einmal eine Reihe komplizierter Gedichte liest, werden sie weniger kompliziert. Weil man beginnt, ihre Strukturen und Muster zu verstehen. Es mag viele Muster geben, aber wenn man sie erst einmal erkennt und langsamer liest, wird kein Gedicht auf Dauer unverständlich bleiben.
Die Mühen des Lyriklesens werden aber auch belohnt. Sie schreiben: "Gleichzeitig mit deiner Fähigkeit, Gedichte zu lesen, wird auch deine Fähigkeit steigen, Nachrichten, Romane, Gesetzestexte oder Werbung zu lesen." Wieso das?
Wir denken in Worten. Wir sehen Worte überall. Worte mit Bildern. Wenn wir lernen in aller Ruhe die Muster eines Gedichts zu erkennen – die ja nicht ausufernd sind: Ein Gedicht füllt oft nur eine halbe Seite dann betreiben wir das, was wir im Englischen "Close Reading" nennen. Ein vertieftes Lesen. Und das lässt sich auf Schlagzeilen anwenden. Auf Zeilen in Artikeln. Auch journalistisches Schreiben hat seine Muster. Alles hat seine Muster, seine wiederkehrenden Strukturen. Und man kann an diesen kleinen Wortkunstwerken namens "Gedicht" seine Fähigkeiten und Fertigkeiten üben, Muster zu erkennen. Und dann nach Mustern in einem Raum oder an einem Menschen zu suchen, in seiner Mimik und Körpersprache. Ich habe das im Unterricht oft mit meinen Schülern gemacht und finde es einfach faszinierend
Ich vergleiche das manchmal mit einem Klempner, der ein Haus betritt. Dessen Blick fällt auch zuerst auf die Wasserhähne. Und ich als Dichter schaue die ganze Zeit auf die Wörter und das ergreift dann meine anderen Sinne.
Sie schreiben: "Ein Gedicht zu lesen liefert keinen Gesprächsstoff. Es bringt dich zum Schweigen. Ein Gedicht zu lesen führt an die Grenzen. Es bereitet dich auf die Stille vor, die uns alle ratlos macht: den Tod." Da wir diese Sendung an einem Feiertag ausstrahlen, der mit dem Tod zu tun hat, darf ich fragen: Wie bereiteten uns Gedichte denn auf die Stille des Todes vor?
Ich glaube, ein wirklich gutes Gedicht bringt uns einfach zum Schweigen. Es ist wie am Ende eines Gebets, wo man "Amen" sagt. Und dann herrscht Stille.
Diese kleine Pause, in der nichts gesagt werden muss. Und ich denke, ein gutes Gedicht berührt das Unaussprechliche. Es versetzt uns an einen Ort, an dem die Worte versagen.
Aber wir versuchen es weiterhin.
Wir wollen aber nicht mit dem Tod enden - welches Gedicht würden Sie uns als Gruß am Ende dieses Gesprächs zuschicken?
Eigentlich wollte ich den "Small Song" nehmen. Aber von dem habe ich ja vorhin schon gesprochen. Deshalb jetzt ein Gedicht, das ich vor Jahren geschrieben habe.
Es heißt: Fernbeziehung
Nur, weil ich nicht will, dass Du gehst
Heisst das nicht, dass ich will, dass Du zurückkommst.
Danke für das Gespräch, ich hoffe, das wird ebenfalls der Beginn einer Fernbeziehung.
Das würde mich freuen.
Die "bescheidenen Vorschläge zum Überdenken der seltsamen Tätigkeit des Lyriklesens" finden sich in Mark Yakich‘ Buch "Poetry. A Suviver’s Guide". Zuletzt erschien von Mark Yakich "The Poetry Reader", eine umfassend kommentierte Anthologie von Gedichten.