Die Literaturagenten - Maja Lunde: "Hoffnung ist eng mit Veränderung verbunden"
Ein Gespräch mit der norwegischen Bestsellerautorin Maja Lunde über ihren Roman „Für immer“, in dem die Menschheit aus der Zeit fällt.
Kinder werden nicht mehr geboren. Alte Menschen leben endlos, selbst schwerstverletzte Unfallopfer sterben nicht mehr. Um die Menschen herum laufen die natürlichen Prozesse jedoch wie gewöhnlich ab: Tag und Nacht, die Jahreszeiten, Geburt und Tod von Lebewesen. Das ist die unheimliche Ausgangssituation in "Für immer" – dem neuen Roman der Norwegerin Maja Lunde, deren Bücher über den Klimawandel, angefangen mit dem 2017 erschienen Band "Die Geschichte der Bienen" internationale Bestseller waren. Thomas Böhm sprach mit Maja Lunde.
Thomas Böhm: Die Idee Ihres Buches ist so überraschend, so schillern, das am Anfang die Frage stehen muss: Wie sind Sie darauf gekommen: den Menschen außerhalb der Zeit zu stellen?
Maja Lunde: Die Idee zu diesem Roman kam mir vor fast zehn Jahren. Und sie kam plötzlich, wie in Blitz. Ich war mit meinem Roman "Die Geschichte der Bienen" auf Tour durch Norwegen. Das Buch war gerade erschienen war und sein Erfolg hatte mein Leben über Nacht verändert. Ehrlich gesagt war ich ziemlich erschöpft. Außerdem war ich gerade 40 geworden, und der dieser Anlass brachte mich zusätzlich zum Nachdenken. Mir wurde klar, dass ich die Hälfte meines Lebens hinter mir hatte. Es war eine dunkle Nacht, ich fuhr auf Straßen mitten im Nirgendwo, auf dem Heimweg von einer Veranstaltung. Und ich hatte all diese düsteren Gedanken. Und dann begann im Radio eine Sendung über den Tod. Sehr sachlich, immer wieder auch philosophisch. Und mir wurde klar, dass ich den Tod annehmen muss. Ich muss mich mit dem Tod anfreunden, denn der Tod gibt dem Leben Sinn.
Thomas Böhm: Ich habe das jetzt gerade so formuliert: Die Menschheit in ihrem Buch fällt aus der Zeit. Die Menschen unterliegen nicht mehr der Zeit. Während aber die natürlichen Zeitläufe weitergehen: Tag und Nacht, die Jahreszeiten, Tiere pfllanzen sich vor, gebären, sterben. Was genau passiert mit den Menschen? Wie würden Sie das beschreiben?
Maja Lunde: Nun, es ist fast so, als hätte die Natur den Menschen aus allem verdrängt. Regelrecht herausgeworfen. Wie Sie sagten: die Natur lebt, aber der Mensch entwickelt sich plötzlich nicht mehr wirklich weiter. Kinder werden nicht geboren, Kinder wachsen nicht, Menschen werden nicht älter. Offensichtlich sterben Menschen auch nicht mehr. Es herrscht Stillstand. Alles hat einfach aufgehört. Und am Anfang des Buches wird das von allen aufgenommen wie ein Segen, dann aber breitet sich ein Gefühl der Verzweiflung aus.

Thomas Böhm: Es gibt im Buch aber zuerst keine, dann sehr widersprüchliche, manche absurd erscheinende Erklärungen, was diesen Stillstand verursacht hat: eine göttliche Strafe, sogar eine KI, die aus der Zukunft die Gegenwart manipuliert.
Maja Lunde: Es gibt verschiedene Arten, sich den Stillstand zu erklären. Was mich fasziniert hat und was wir ja immer wieder erleben: wie leicht wir Menschen uns mit einer Situation, einer neuen Realität arrangieren, die wir kurz vorher noch für undenkbar gehalten haben.
Thomas Böhm: Es gibt im Buch mehrere Hauptfiguren: Jenny, eine tödlich an Krebs erkrankte Kriegsreporterin. Margo und Otto, ein Paar, das in Rente geht und sich auf einen geruhsamen Lebensabend vorbereitet. Eine junge Frau, die ihren Kick in Extremsportarten bekommt. Und einen werden Vater, der die Geburt seines Sohnes nicht erwarten kann. Gibt es etwas, dass diese Figuren verbindet?
Maja Lunde: Es sind Menschen wie du und ich. Aber sie alle befinden sich an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben, an dem etwas Lebensveränderndes passieren wird.
Thomas Böhm: Beim Lesen gab es viele Momente, bei denen ich dachte: „Wow, so wäre das, wenn wir unsterblich wären.“ Zum Beispiel sagt die Frau von Otto, dem leidenschaftlichen Gärtner: "Wenn ich endlos Zeit habe, möchte ich die nicht mit Dir verbringen." Ging es Ihnen beim Schreiben auch so, dass sie unter den umgekehrten Vorzeichen plötzlich die Zeit anders verstanden haben?
Maja Lunde: Wie gesagt begann das Buch für mich als Schreibprojekt, das mir etwas Trost spendete, weil ich den Tod akzeptieren musste. Und als ich anfing, meine Figuren in all diese Situationen zu bringen, hatte ich auch kleine Erleuchtungen zusammen mit ihnen. Zum Glück glaube ich nicht, dass ich meinen Mann verlassen hätte, so wie Margo es mit Otto macht. Mit diesem einen Satz, den Sie gerade zitiert haben – eine wirklich traurige Szene. Und es gibt ja auch all diese kleinen Momente, in denen es immer unheimlicher wird. Die Situation spitzt sich immer mehr zu. Wird immer seltsamer. Wie bei Jakob, der sich so sehr auf sein erstes Kind freut. Er verfolgt die Schwangerschaft Woche für Woche. Er weiß genau, wie groß das Kind jetzt ist, dass dem Fötus jetzt Nägel und Haare wachsen. Und dann hört das Kind mit einem Mal auf zu wachsen. Es bleibt einfach so im Mutterleib. Das ist eine so verzweifelte und unheimliche Situation.
Thomas Böhm: Sie führen Ihr Gedankenexperiment sehr drastisch und konsequent durch. Zum einen werden Kinder nicht mehr geboren. Sie bleiben also im Mutterleib. Zum anderen sterben Menschen, die eigentlich tödliche Verletzungen bei Unfällen erlitten haben, nicht mehr. Die Beschreibung der Station, auf der diese noch lebenden Leichen liegen, kriege ich nicht mehr aus dem Kopf. Warum musste diese Drastik sein?
Maja Lunde: Nun, ich glaube, das ist das Privileg des Autors, zu sagen: "Ich weiß nicht." Aber wenn ich schreibe, versuche ich, der Geschichte treu zu bleiben. Und in diesem Fall fühlte es sich so an, als müsste es extrem sein, weil es eine so extreme Situation ist und so unnatürlich. Es musste eben sein. Am Anfang feiern die Menschen ja noch, vor allem die Alten. Weil sie plötzlich ewig leben. Nicht mehr zum alten Eisen gehören. Eine neue Berechtigung fühlen, am Leben zu sein. Die Rentner im Buch feiern und geben riesige Partys: Da heißt es dann: "Noch eine Flasche Weißwein?" "Ja, ja, ja!" "Wir können jetzt ewig an die Riviera reisen."
Thomas Böhm: Dass wir in der Zeit leben, mit der Zeit, heißt ja auch: dass wir wachsen können, uns verändern. Dass wir lernen. Die Kinder im Buch wachsen nicht mehr, sie lernen aber auch nichts. Nicht einmal mehr die einfachsten Dinge wie: sich selbst die Jacke zumachen. Ist das nicht die schrecklichste Vorstellung: der Mensch bleibt "Für immer" genauso wie er ist. Er kann sich nicht verändern?
Maja Lunde: Ich glaube, das ist ein Thema, das in der Psychologie immer wieder diskutiert wird. Verändern sich Menschen wirklich? Oder sind wir fast immer dieselben wie damals, als wir Kinder waren? Mein Sohn ist 20 und ähnelt immer noch dem kleinen Menschen, der er einmal war. Und Sie haben recht: sich nicht mehr zu verändern ist wirklich beängstigend. Und dieser Stillstand ist eine Situation, die völlig hoffnungslos ist, denn Hoffnung ist eng mit Veränderung verbunden.
Thomas Böhm: Am Ende des Buches – und ich verrate natürlich nichts von der Handlung, aber man kann allgemein darüber sprechen -: am Ende des Buches ist eine der Figuren einverstanden. Einverstanden mit ihrer Sterblichkeit. Mit der Endlichkeit ihres Lebens. Was heißt es: Einverstanden zu sein mit dem Tod? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Leben?
Maja Lunde: Ich weiß, es ist ein Klischee: Man schätzt jeden Tag mehr. Jeden Augenblick. Das sagen auch Menschen, die eine lebensbedrohlichen Krankheit überwunden haben: Sie beginnen, all diese kleinen Momente, die kleinen Dinge im Leben, wirklich zu schätzen und dankbar für das zu sein, was sie haben.