Die Literaturagenten - Zeruya Shalev: "Es ist schwer, die Literatur mit dem Krieg zu verknüpfen."
Es gibt Buchcover, die so einprägsam sind, dass sie fast jeder kennt: Dazu gehört sicherlich der Einband des Romans „Liebesleben“ von Zeruya Shalev: ein nackter Frauenrücken und ein schwerer Zopf, der darüber fällt. Mit dieser Geschichte über eine komplizierte Leidenschaft zu einem älteren Mann wurde die israelische Autorin bei uns bekannt, von Maria Schrader wurde das Buch auch verfilmt. In Deutschland hat Zeruya Shalev viele Leserinnen und Leser. Und mit all ihren Romanen, u.a. mit „Mann und Frau“, „Späte Familie“, „Schmerz“ oder „Schicksal“ war sie hier auf Lesereise. In dieser Woche war Shalev wieder auf Berlin-Besuch - dieses Mal jedoch ohne ein neues Buch im Gepäck. Denn: Seit dem 7. Oktober 2023 kann Zeruya Shalev nicht mehr schreiben. Die Terrorangriffe der Hamas und der danach folgende Krieg haben sie in eine tiefe Schreib- und Lesekrise gestürzt. Literaturagentin Anne-Dore Krohn hat Zeruya Shalev getroffen und mir ihr darüber gesprochen.
Es ist, als habe der 7. Oktober ihr Leben als Schriftstellerin in ein Davor und ein Danach eingeteilt, sagt sie. Dieser Terrorangriff der Hamas, aber auch der Krieg danach, das sei für sie ein absoluter Schock, der ihre Gedanken absolut beherrscht. Sie kann sich sehr schlecht aufs Lesen konzentrieren. Und aufs Schreiben schon gar nicht. Dabei hatte sie schon mit einem neuen Buch angefangen:
Als der Krieg anfing, war ich mitten in einer sehr intensiven Romanrecherche, intensiver als je zuvor. Ich schreibe über eine Richterin und muss mich tiefgreifend mit der Thematik auseinandersetzen. Und dann kam der Krieg, der schreckliche, schreckliche Terroranschlag. Seitdem ist Schreiben unmöglich, in vielerlei Hinsicht. Alleine: sich zu konzentrieren. Oder: abzuschalten von den Ereignissen.
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Das nächste Buch von Zeruya Shalev wartet also in der Schublade. Aber: Sie schafft es einfach nicht, sich darauf zu konzentrieren. Angesichts der brutalen Gewalt gegen die Menschlichkeit, auf beiden Seiten, versagen ihr die Worte.
Schon vor dem 7. Oktober 2023 hat sie sich große Sorgen gemacht: um die Demokratie in ihrem Land, um den Dauerkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern, und schon vorher, das war ihr in unserem Gespräch wichtig zu betonen, war sie sehr unzufrieden mit der Regierung Netanjahu.
Aber sie konnte sich bisher trotzdem ins Schreiben hineinwerfen, in den Kosmos ihrer Figuren eintauchen. Ein Geschenk, meinte sie, dass sich Schreibende in eine andere Welt zurückziehen können. Aber das geht jetzt nicht mehr.
Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt andere Aufgaben habe. Alles, was man in Deutschland und in anderen Ländern hört, ist die Stimme der Regierung. Die schrecklichen Minister sind so laut. Ich wollte zeigen, dass die Mehrheit der Israelis liberal sind, dass sie in Frieden leben wollen. Auf einmal hatte ich so viele Aufgaben. Ich habe auf Demonstrationen gesprochen und habe angefangen, Grabreden über getötete Soldaten zu schreiben. Es war ein großer Schock, der meine ganze Welt wirklich erschütterte.
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Shalev lebt in Haifa im Norden Israels, dort wie in vielen anderen Städten Israels versammeln sich regelmäßig die Menschen, um für Frieden und die Freilassung der Geiseln zu demonstrieren. Sie reist dafür auch herum. Regelmäßig sitzt Zeruya Shalev z.B. mit Angehörigen von Geiseln, ganz in weiß gekleidet in Jerusalem vor der Knesset, schweigend.
Auf Bücher kann sie sich im Moment nicht konzentrieren, aber sie schreibt trotzdem: Artikel und Essays, die zum Teil auch bei uns veröffentlicht werden. Ich erinnere mich an einen Text von ihr, der letztes Jahr in der FAS erschien, über zwei Frauen, die zusammen in ihrem Fitnessstudio in Haifa trainieren, eine Israelin und eine Palästinenserin. Dann fiel der Sohn der Palästinenserin im Gazastreifen. Die israelische Freundin war bei der Beerdigung dabei. Aber seither, das hat Zeruya Shalev mir auch in unserem Gespräch noch mal bestätigt, ist die Palästinenserin nicht mehr zurückgekehrt.
Dabei wünscht sie sich die ganze Zeit, wieder zurückzukehren zu ihrem Schreiben, weil es das ist, was sie wirklich liebt und machen will. Wenn Sie schreiben, wie sehr sind Sie dann aus der Realität verschwunden?
Ich vermisse es so sehr, aber es erscheint mir wie ein Privileg oder Luxus, den ich mir im Moment nicht leisten kann. Ich meine diesen langen, langen Schreibtage – Oh, ich mag sie so sehr – etwa von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends, manchmal bis Mitternacht. Als ich "Schicksal" geschrieben habe, habe ich so gearbeitet, es ist ein bisschen obsessiv. Ich bin dann ganz konzentriert, ohne iPhone und ohne eine andere Verbindung. So liebe ich es zu schreiben.
Nun ist ja Zeruya Shalev eine Meisterin für emotionale Ausnahmezustände: In ihren Büchern beschreibt sie meistens komplizierte Liebes- und Beziehungsverhältnisse. Richtig politisch waren Ihre Romane bisher nicht, eher kam die Politik so nebenbei. In ihren Romanen geht es um Leidenschaft, Liebe und Leid, um Ehe, Sex, Patchwork und Seitensprünge, Trennungen und Neuanfänge.
Man könnte natürlich argumentieren, dass auch das Private immer politisch ist. Aber es ging Zeruya Shalev tatsächlich in ihren Büchern um die inneren Kämpfe, das Zwischenmenschliche im Privaten, das war eine bewusste Entscheidung.
Zumindest in meinen ersten Romanen habe ich versucht, die politische Situation zwar nicht völlig zu ignorieren, aber sie fernzuhalten. Weil ich nicht wollte, dass sie meine Geschichten und den inneren Krieg, den ich beschreibe, verschlingen. Es war also immer eine Art Kampf zwischen der äußeren und der inneren Realität. Sozusagen der Versuch, meine Literatur vor der beißenden Realität in Israel zu schützen.
Was aber nicht heißt, dass die Gegenwart Israels keinen Eingang in ihr Schreiben gefunden hat. Viele sind nicht vordergründig politisch. Aber die politische Realität war immer der Hintergrund, vor dem ihre Figuren agiert haben. Man könnte auch sagen: Zeruya Shalevs Geschichten handeln von unruhigen Menschen in einem von Unruhen geprägten Land.
Im Roman "Schmerz" zum Beispiel, der 2015 erschien, hat sie erstmals darüber geschrieben, dass sie selbst - vor 21 Jahren – bei einem Selbstmordattentat auf einen Bus schwer verletzt wurde. Dieses traumatische Erlebnis hat sie in "Schmerz" verarbeitet und über eine Schuldirektorin geschrieben, die immer noch damit zu tun hat. Das hat aber viele Jahre gedauert, bis sie Fiktion daraus machen konnte.
Literatur braucht ja oft lange, um aktuelle Ereignisse zu verarbeiten. Sie hat erzählt, dass in Israel aber schon einige Bücher erschienen sind zum 7. Oktober 23 und dem Krieg danach. Und sie versteht den Drang, daraus Literatur zu machen. Für sie selbst jedoch wäre das viel zu früh:
Es ist schwer, die Literatur mit dem Krieg zu verknüpfen. Ich suche immer noch nach einem Weg. Wenn ich wieder an meinem Roman schreibe, werde ich versuchen, über den Sommer vor dem Krieg zu schreiben. Das könnte eine Lösung sein. Vielleicht ist es auch zu früh, um darüber zu sprechen. Aber um direkt über den Krieg zu schreiben, über das Massaker und über die Geiseln - dafür brauche ich Zeit, dafür brauche ich viel Zeit. (ist hier sehr bewegt)
Eine hörbar bewegte Zeruya Shalev, die aber erzählt hat, dass sie ganz langsam wieder mehr ins Schreiben kommt. Nicht wie früher, nicht dieses totale Abtauchen und Abgeschnittensein von der Außenwelt. Aber sie recherchiert wohl wieder etwas mehr zum neuen Roman, verbringt Zeit im Gericht, weil die Hauptfigur ihres nächsten Romans ja eine Richterin sein wird, wie wir schon gehört haben.
Ihr letzter Roman ist 2021 erschienen, "Schicksal", letztes Jahr kam 30 Jahre nach dem ersten Erscheinen in Israel erstmals ihr Debut auf Deutsch heraus, "Nicht ich", eine wildes Geschichte über eine junge Frau, die Kind und Mann verlässt und ihre Sexualität auslebt.
Aber auf den neuen Roman, sagt sie, müssen wir wohl noch min zwei, drei Jahre warten. Auch wenn sie versucht, wieder zur Literatur zurückzukehren: Ihr Platz ist im Moment Dazwischen, mit mindestens einem Bein steckt sie gerade in der Gegenwart.
Anne-Dore Krohn hat Zeruya Shalev in Berlin getroffen, Shalevs Bücher erscheinen im Berlin Verlag.