Die Literaturagenten - Erinnern und Überleben: Han Kangs "Unmöglicher Abschied"

"Unmöglicher Abschied" von Han Kang © Aufbau
"Unmöglicher Abschied" von Han Kang | © Aufbau

Zum ersten Mal ging der Literaturnobelpreis im vergangen an eine Südkoreanerin, an die Schriftstellerin Han Kang, "weil ihre intensive poetische Prosa sich historischen Traumata stelle und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlege", so die Jury. Ihr wohl wichtigster Roman "Unmöglicher Abschied", ist jetzt auf Deutsch erschienen. Ein Roman, der persönliche und kollektive Traumata kunstvoll verbindet. Die Geschichte folgt der Schriftstellerin Gyeongha, die auf Bitten ihrer Freundin Inseon auf eine Insel reist, um den Vogel der Freundin während ihres Krankenhausaufenthaltes vor dem Verhungern zu retten. Doch der Schneesturm, der dort tobt, wird zum Sinnbild eines inneren und äußeren Überlebenskampfes.

"Schnee taucht von der ersten Seite auf", sagt Han Kang in einem Interview, "doch er hat nichts Liebliches. Er ist grausam, todbringend." Die Handlung spielt auf der südkoreanischen Insel Jeju, deren Schönheit durch die Tragödie des Massakers von 1948 überschattet ist – ein Kapitel, das jahrzehntelang totgeschwiegen wurde. Über 30.000 Zivilist*innen wurden damals getötet. "Erst als eine alte Frau mir eine Mauer zeigte, an der die Dorfbewohner erschossen wurden, begann ich, darüber nachzudenken", erinnert sich Han Kang.

Im Roman öffnen die Narben der Gegenwart die Tür zur Vergangenheit: Gyeongha entdeckt in Inseons Elternhaus Hinweise darauf, wie tief die Familie vom Massaker geprägt ist. Diese Verbindung zwischen Freundschaft und Trauma illustriert, wie "verdrängte gesellschaftliche Traumata Überlebende und ihre Nachkommen bis heute prägen".

Ein weiteres starkes Bild für das Leid und die Heilung ist Inseons Verletzung: Nach einem Unfall müssen ihre Finger ohne Betäubung behandelt werden – der Schmerz wird zur Voraussetzung für das Überleben. "Nur wer den Schmerz spürt und erträgt, kann auf Heilung hoffen", erklärt Han Kang. Dieses grausame, fast fantastische Motiv verleiht dem Roman eine alptraumhafte Intensität.

Träume sind für Han Kang zentral. Sie schildert, wie ein eigener Albtraum die Entstehung des Romans beeinflusste: "In diesem Traum bin ich durch den Schnee gelaufen, umgeben von schwarzen Baumstämmen. Er sagte mir so viel über Erinnerung, Trauer und Schmerz." Solche visionären Elemente machen "Unmöglicher Abschied" zu einem literarischen Kunstwerk, das die Zerbrechlichkeit des Lebens einfängt.

Mit poetischer Kraft und schmerzlicher Schönheit schreibt Han Kang gegen das Vergessen an – und erinnert uns daran, dass die Vergangenheit nicht abgeschlossen ist, sondern fortwährend unser Leben beeinflusst.

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