Die Literaturagenten - Colette Andris: "Eine Frau, die trinkt"

"Eine Frau, die trinkt" von Colette Andris
Wagenbach
"Eine Frau, die trinkt" von Colette Andris | © Wagenbach Download (mp3, 13 MB)

Kürzlich ist der Debütroman "Eine Frau, die trinkt" der Pariser Autorin Colette Andris, fast 100 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, zum ersten Mal auf Deutsch erschienen. Anlässlich dieser Neuerscheinung haben wir mit dem Flensburger Literaturwissenschaftler Jan Rhein gesprochen, der das Buch ins Deutsche übersetzt und mit einem Nachwort versehen hat.

Hinter dem Namen Colette Andris verbirgt sich ein Pseudonym. Die Autorin war eine prominente Figur im Paris der 20er Jahre, bekannt als Tänzerin, Schauspielerin im Stummfilm und Autorin von vier Romanen. Jan Rhein vergleicht sie mit einem "Starlet" ihrer Zeit, die auch in Modezeitschriften präsent war. Durch ihr Leben kannte sie das Pariser Nachtleben und die Amüsierviertel, genau wie ihre Protagonistin in diesem Buch. Colette Andris stammte sie aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, hatte Literatur studiert und besaß eine klassische Bildung, was sich deutlich in der Beschreibung des bürgerlichen Lebens im Roman widerspiegelt. Für Rhein ist jedoch weniger die Autobiographie entscheidend als die authentische und psychologisch komplexe Figur, die Andris geschaffen hat.

Im Mittelpunkt des Romans steht also die junge Guita, eine Frau, die in den 1920er Jahren in Paris lebt und äußerlich alles besitzt. Sie heiratet jung einen wohlhabenden Mann und führt ein Leben in Luxus mit schicken Empfängen und Dienstpersonal. Doch hinter dieser Fassade der Sorglosigkeit leidet Guita unter Einsamkeit in ihrem "goldenen Käfig". Alkohol wird für sie früh zu einem Ausweg. Bereits als Kind greift sie aus Trotz zum Wein, und diese Episode markiert den Beginn einer Entwicklung, die das gesamte Buch in kurzen, mal lustigen, mal tragischen, aber immer drastischen "alkoholischen Episoden" schildert.

Gitas Verhältnis zum Alkohol ist vielschichtig. Einerseits ist Alkohol in ihrer Umgebung allgegenwärtig, sowohl im Elternhaus als auch bei gesellschaftlichen Anlässen. Andererseits dient er ihr als Ausflucht aus ihrem eintönigen Leben, verspricht Abenteuer und erweitert ihren Blick. Dabei ist sie sich ihrer Sucht und deren zerstörerischen Kraft bewusst, was die Figur besonders faszinierend macht, da sie gleichzeitig Selbstermächtigung und Selbstzerstörung erlebt. Guita wird als starke, selbstbewusste und selbstreflektierte, aber auch verletzliche und abhängige Frau charakterisiert.

Überraschenderweise löste "Eine Frau, die trinkt" bei seiner ersten Veröffentlichung in den 1920er und 30er Jahren in Frankreich keinen Skandal aus, sondern wurde von der Literaturkritik differenziert aufgenommen und verkaufte sich gut. Die Kritiker erkannten, so Jan Rhein, „dass die drastischen Darstellungen keine voyeuristische Absicht verfolgten“.

Jan Rhein betont im Gespräch besonders die Form des Romans: Colette Andris variiert in den kurzen Kapiteln ganz unterschiedliche Erzählformen und Textsorten: Briefe, Dialoge, innere Monologe, lyrische Passagen und klassische Erzählungen. Jedes Kapitel funktioniere wie eine eigene kleine Kurzgeschichte, werde aber durch die Figur Guita und die Dramaturgie des Romans zusammengehalten, sodass man unbedingt wissen wolle, wie es weitergeht und Gita immer plastischer werde.

Die erste deutsche Ausgabe von "Eine Frau, die trinkt" ist bei Wagenbach erschienen, umfasst 156 Seiten und kostet 22 Euro. Jan Rhein hat den Band ins Deutsche übersetzt und mit einem Nachwort versehen.

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