Netanjahu gibt Einigung über Waffenruhe bekannt - Tom Segev zur Waffenruhe: "Ich werde nicht erstaunt sein, wenn das alles zusammenbricht."

Eine Frau, die eine israelische Fahne hält, guckt sich Tel Aviv Plakate an, auf denen Personen zu sehen sind, die von der Hamas entführt wurden © picture alliance/dpa | Ilia Yefimovich
picture alliance/dpa | Ilia Yefimovich
Eine Frau, die eine israelische Fahne hält, guckt sich Tel Aviv Plakate an, auf denen Personen zu sehen sind, die von der Hamas entführt wurden | © picture alliance/dpa | Ilia Yefimovich Download (mp3, 13 MB)

Israels Ministerpräsident Netanjahu hat eine Einigung in den noch ausstehenden Streitpunkten des Gaza-Abkommens bekanntgegeben. Wie sein Büro mitgeteilt hat, soll das israelische Kabinett das Abkommen heute billigen. Ursprünglich war das schon gestern geplant. Dann gab es aber Verzögerungen. Netanjahu warf der Terror-Organisation Hamas vor, von Teilen der Vereinbarung abgerückt zu sein, um in letzter Minute Zugeständnisse zu erreichen. Die Hamas wies die Vorwürfe zurück. Der israelische Historiker und Journalist Tom Segev äußerte sich zur Umsetzung und den Zielen des Abkommens sehr skeptisch.

Das Interview von Kerstin Hermes und Julia Menger mit dem Historiker Tom Segev:

radioeins: Das Abkommen steht jetzt also. Was halten Sie denn davon? Ist es ein guter Deal für Israel?

Tom Segev: Es ist erstmal ein guter Deal, weil mindestens einige von den Geiseln befreit werden. Niemand weiß genau, wieviele. Niemand weiß genau, wieviele überhaupt noch am Leben sind. Man spricht immer von 98 Geiseln, aber wie viele davon noch am Leben sind weiß niemand. Es ist jetzt wahrscheinlich so, dass am Sonntag oder vielleicht erst am Montag drei Frauen befreit werden. Soweit scheint es klar zu sein. Ob das auch noch passiert, weiß niemand. Aber die Tatsache, dass niemand eigentlich weiß, besonders die Familien der Geiseln, die haben keine Ahnung, wer von ihnen befreit wird, wann er befreit wird, ob die noch am Leben sind oder nicht, was die medizinische Situation ist, das ist alles ungewiss. Und deshalb können Sie auch kein Jubeln hören auf den Straßen. Die Menschen denken nicht, dass das ein wunderbar gutes Abkommen ist. Ja, wenn die befreit werden, dann ja. Aber ich glaube, es ist ein Krieg gewesen, 15 Monate lang, den wir nicht gewonnen haben. Und wir sind eigentlich nicht daran gewöhnt, Kriege nicht zu gewinnen. Das ist das schlimmste militärische Erlebnis, das wir jemals hatten. Und das Gleiche stimmt auch für die Palästinenser. Also man sieht jetzt Bilder von den Palästinensern in Gaza, die auf den Straßen tanzen. Die sind in eine fürchterliche humanitäre Katastrophe geraten. Daran sind wir schuld. Und das ist kein Grund für große Freude.

Das überrascht mich jetzt aber, dass Sie sagen, daran sind wir schuld. Denn Auslöser war ja dieses furchtbare Attentat mit rund 1000 Toten auf israelischer Seite.

Tom Segev: Ja, ja, natürlich. Schuld an der Katastrophe, natürlich nicht an dem Krieg. Ich war von Anfang an der Meinung, dass der Krieg viel kürzer sein müsste. Er war nicht zu vermeiden, dass Israel einen Vergeltungsschlag macht. Aber was da passiert ist in Gaza, ist schlimmer als es den Palästinensern ging seit 1948. Das ist wirklich eine zweite Nakba. Jetzt sagt man immer, sie können wieder zurück in den Norden. Eine Million Flüchtlinge können jetzt wieder zurück, aber der Norden, den gibt es nicht mehr. Das ist völlig zerstört. Die Reaktion ist viel, viel schlimmer als sie hätte sein dürfen. Meiner Meinung nach. Und ich sage Ihnen etwas, was nicht viele Israelis teilen.

Die meisten Israelis wissen überhaupt nicht, was in Gaza passiert ist in diesen Monaten, weil die israelischen Medien das uns nicht erzählen. Jeder Mensch, der einen ausländischen Sender anmacht, sieht, was für eine fürchterliche Situation dort ist. Zigtausende Tote, viele Tausende von toten Kindern. Natürlich ist die Hamas daran schuld. Das ist eine absolut wahnsinnige Ideologie. Dass die denken, für Ihre Ideologie ist es lohnend, 40.000 Menschen zu opfern. Das ist wahnsinnig.

Gucken wir vielleicht nochmal auf dieses Abkommen jetzt. Das enthält drei Stufen. In der ersten sollen die Waffen ruhen, die ersten 33 Geiseln freikommen. Und pro Geisel 30 palästinensische Häftlinge im Gegenzug. Kritiker befürchten aber, dass es zu den beiden nächsten Stufen auch gar nicht kommen wird, in der unter anderem ja noch die noch lebenden Geiseln weiter freikommen. Wie groß sehen Sie die Chance, dass jetzt aus dieser Waffenruhe tatsächlich ein dauerhafter Waffenstillstand wird, bis hin zum Wiederaufbau des Gazastreifens?

Tom Segev: Ich will Ihnen sagen, dass ich mich nicht, ich werde nicht erstaunt sein, wenn das alles zusammenbricht. Es ist viel zu kompliziert und es ist viel zu detailliert, statt dass man alle Geiseln auf einmal und alle befreit auf einmal dieses System, das jetzt auf viele Wochen lang jedes Mal noch zwei Geiseln, noch zwei Geiseln. Es kann noch so viel dazwischen passieren. Zum Beispiel kann es passieren, dass Präsident Trump in Amerika seine Geduld verliert. Das interessiert ihn dann nicht mehr. Dieses Abkommen ist in großem Maße deshalb passiert, weil Trump wirklich sehr, sehr starken Druck auf Israel ausübt. Netanyahu hatte zu beschließen, wer ihm größere Angst macht, Trump oder seine Koalitionspartner, die jetzt drohen, die Koalition, die Regierung zu verlassen. Das ist aber auch noch nicht klar. Alles ist unklar. Und furchtbar bedrückend. (...) Aber auch besonders für die Familien. Die haben jetzt seit 15 Monaten keine Ahnung, wer überhaupt befreit wird und wer nicht. Und wer noch lebt und wer nicht. Es ist überhaupt nicht klar, ob die Hamas genau weiß, ob die Hamas, die alle zusammen hat. Die Hamas haben wir nicht zerstört. Die Geiseln haben wir nicht befreit. Gaza haben wir zerstört. Nichts Gutes ist passiert in diesen 15 Monaten.

Der Historiker Tom Segev in Israel über die Waffenruhe-Vereinbarung mit der Terrororganisation Hamas und den Geisel-Deal. Sein aktuelles Buch heißt „Jerusalem Ecke Berlin“. Danke Ihnen für das Gespräch.

 

Gazastreifen, Khan Yunis: Palästinenser inspizieren ihre zerstörten Häuser in Hamad Town, nachdem sie nach dem Rückzug der israelischen Armee zurückgekehrt sind. Die Stadt ist, wie fast der gesamte Gazastreifen, massiv zerstört (Bild vom 21.05.2024) © Abed Rahim Khatib/dpa
Abed Rahim Khatib/dpa

Katastrophale Lage der Zivilbevölkerung - Waffenruhe zwischen Hamas und Israel - Hoffnungsschimmer für Gaza

Mit dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel vor 15 Monaten hat ein Krieg angefangen, der bis heute andauert. Jetzt gibt es endlich einen Verhandlungserfolg. Die Hoffnung auf eine Waffenruhe zwischen Hamas und Israel ist groß. Doch es bleibt abzuwarten, ob diese tatsächlich zustande kommt und ob sie den dringend benötigten humanitären Zugang ermöglicht. "Wir hoffen auf eine schnelle Waffenruhe", erklärte Dr. Thorsten Klose-Zuber, Generalsekretär der Hilfsorganisation "Help – Hilfe zur Selbsthilfe", auf radioeins.

Pressekonferenz mit Scheich Mohammed bin Abdulrahman bin Jassim Al Thani, Premierminister Katar, über die Vermittlungsbemühungen zwischen Israel und Hamas © picture alliance / Xinhua News Agency | Xin Hua
picture alliance / Xinhua News Agency | Xin Hua

Gaza-Verhandlungen in Doha - Israel und Hamas einigen sich auf Waffenruhe und Geiselvereinbarung

In Katar haben sich Israel und die Hamas auf eine Waffenruhe und die Freilassung von israelischen Geiseln und palästinensischen Gefangenen geeinigt. Die Vereinbarung umfasst drei Phasen: eine Waffenruhe für sechs Wochen, die Freilassung von 33 Geiseln und den Rückzug der Israelis aus dem Gazastreifen. In einer nächsten Phase soll über einen dauerhaften Waffenstillstand verhandelt werden. Wir sprachen darüber mit Moritz Behrendt, Korrespondent in Kairo und zuständig für Katar, auf radioeins.