Album der Woche - "Come Ahead" von Primal Scream
Sie hätten immer versucht, mit ihrer Musik transzendente, euphorische, ekstatische Erfahrungen zu schaffen, sagt Bobby Gillespie über seine Band Primal Scream, die spätestens seit den 90er Jahren als eine der einflussreichsten Rockbands Großbritanniens gilt. Und Rockband ist viel zu kurz gegriffen, denn Primal Scream haben mit jedem Album ein bisschen mehr die Grenzen der Rockmusik verschoben, bis sie sie ganz überschritten haben. Davon zeugt auch ihr neues Album "Come Ahead", das erste Studioalbum seit acht Jahren.
Sie hätten seit 2016 kein Album unter dem Namen Primal Scream veröffentlicht, weil sie das Ganze überdenken wollten, sagt Bobby Gillespie. Es stellte sich die klassische Sinnfrage nach all der Zeit im Musikgeschäft. Doch dann schrieb er seine Autobiografie und die Songtexte flossen nur so aus ihm raus. Musikalisch gesehen gab es zu ungefähr der gleichen Zeit eine Band, oder ein Bandkollektiv, das sie wahnsinnig begeisterte. Auf der neuen Platte seien sie massiv von dem britischen Bandkollektiv SAULT beeinflusst, sagt Bobby Gillespie. Seit 2019 veröffentlichen Sault ihre Musik unter diesem Namen und begeistern mit ihrem Hard-Funk und Disco-Sound. Eine hard-Funk-Platte wollten Primal Scream zunächst auch machen, doch dann ließ Produzent David Holmes seinen Einfluss gelten. Er ist u.a. bekannt für seine Filmmusik der Ocean's Eleven Trilogie und gab der neuen Primal Scream-Platte mit seinen Streicher- und Orchestereinlagen etwas Geschmeidiges. Mit dem Rock ihrer Anfangstage habe das sowieso nichts mehr zu tun.
Dieses Gefühl für Disco, Funk und Soul sei ziemlich natürlich für ihn, sagt Bobby Gillespie, denn das ist die Musik, die er immerwährend hört. Es ist einfach seit langem schon die aufregendste Musik überhaupt und diese Begeisterung spiegelt sich auch in seiner eigenen Musik. Außerdem glaube er auch, dass er seine Songtexte niemals, wie ein Rocker schreibt. Viel eher wie ein Rapper.
Als in den 80er Jahren eine Band namens Primal Scream das Licht der Welt erblickte, versammelte sie Mitglieder der drei größten britischen Rockbands überhaupt. Die Rede ist von den Stone Roses, von My Bloody Valentine und von The Jesus and The Mary Chain – Bands, die immer noch wegweisend sind für junge Generationen von Musikern und Musikerinnen. Primal Scream selbst schrieben Popmusikgeschichte mit ihrem 1991er Album "Screamadelica". Ebenfalls wegweisend, total groovy und immer noch in sämtlichen Playlisten durch die Songs "Movin‘ on Up" oder "Loaded" vertreten. Obwohl die neue Platte schon ein wenig an den Groove von "Screamadelica" anschließt, ist Gillespie doch froh, dass die alten Tage hinter ihnen liegen.
Die neuen Songs seien geprägt von der Lebenserfahrung eines 63-Jährigen, sagt Bobby Gillespie. Selbstverständlich habe er mittlerweile eine bestimmte Sicht auf die Welt und die Menschen, und er attestiert bei sich eine gewisse Weisheit, die es ihm ermöglicht, mit Autorität über bestimmte Themen zu singen. Am deutlichsten tut er das in dem neuen Song "Love Insurrection" – Der Aufstand der Liebe. Er habe bei dem Song versucht, den Zeitgeist aufzuschnappen und zu beschreiben, was ihn und Großbritannien umtreibt. Der Aufstieg der extremen Rechten und die Ungleichheit bzw., oder das Verhalten einiger, anstatt kritisches Denken und den eigenen Intellekt zu entwickeln, indem sie Bücher lesen, irgendwelche Verschwörungsmythen für wahr zu halten. Am meisten habe ihn diese riesige Manipulation von Menschen, ihren Emotionen und Vorurteilen beschäftigt. Tja, wenn schon eine Aufwiegelung der Gefühle, dann doch einen Aufstand der Liebe, dachte sich Gillespie und schrieb den in verführerische Funk- und Breakbeats gekleideten Song. "Love Insurrection".
Aus den einfachsten Verhältnissen stamme er, schrieb Bobby Gillespie 2021 in seiner Autobiografie. In einer Mietskaserne in Glasgow wuchs er auf und er nutzte jede Möglichkeit der Weltflucht, die sich ihm bot. Am besten geeignet schienen dazu die Literatur der Beatpoeten und die Musik. Am Ende sollte Musik schließlich ganz sein Leben beeinflussen und er beeinflusste das Leben mit seiner Musik. Seine Autobiografie zu schreiben, damit habe er sich in gewisser Weise freigespielt. Er habe dadurch die Begeisterung und den Antrieb gefunden, neue Songs zu schreiben, und zwar richtig lange Songs. Und so gibt es auf dem neuen Album regelrechte Geschichten in Versform – Erzählungen. Er denke auch, dass er bisher noch nie so direkt über sich selbst gesungen hat wie in den neuen Songs.
Früher habe er beim Songschreiben immer Barrieren errichtet, um sich zu schützen, sagt Bobby Gillespie. Er hat die Wahrheit über sich also verklausuliert oder versteckt. Er wollte nicht zu viel verraten, wollte sich nicht zeigen. Doch nun ist das anders. Er versucht, so ehrlich und wahrhaftig zu texten wie nur möglich. Dabei ist das Wort "Wahrheit" natürlich mit Vorsicht zu genießen, denn wann immer man poetisch aktiv wird, dann muss man die Wahrheit schon ein bisschen aufpimpen. Man dramatisiert die Dinge ein wenig, das gehört zum Handwerk des Songwritings. Nur ein Song erzählt ziemlich eins zu eins seine wahre Geschichte: "Heal Yourself". Der Song sei nicht zufällig in der ersten Person geschrieben, meint Bobby Gillespie. Es ist seine persönliche Geschichte. Seine Frau zu treffen und eine Familie zu gründen, das habe sein Leben gerettet. Seine Frau habe etwas in ihm gesehen, was er selbst lange Zeit nicht sehen konnte, und hat ihn geheilt. Gillespie war dem Rausch und den Substanzen, die ihn erzeugen, nicht gerade abhold und so beinhaltete die Heilung auch das Loskommen davon. Der Song erzählt, wie eine Frau einen Mann mit Liebe davon überzeugen kann, sich selbst zu lieben.
Claudia Gerth, radioeins
Tracklist
1 | Ready To Go Home |
2 | Love Insurrection |
3 | Heal Yourself |
4 | Innocent Money |
5 | Melancholy Man |
6 | Love Ain't Enough |
7 | Circus of Life |
8 | False Flags |
9 | Deep Dark Waters |
10 | The Centre Cannot Hold |
11 | Settlers Blues |