Album der Woche - "Humanhood" von The Weather Station
Du kannst nicht verhindern, dass Trauer neben Glück existiert; freudige Ereignisse neben dem Schrecken. Das Einzige, was du verhindern solltest, ist es zu leugnen. Ein Satz der sehr klugen kanadischen Singer-Songwriterin Tamara Lindeman, die seit 2006 unter dem Pseudonym The Weather Station Musik veröffentlicht.
So bzw. vor drei Jahren passend zu diesen Worten ein Album namens "Ignorance", das sich um den Klimawandel dreht. "Ignorance" war ihr internationaler Durchbruch und tatsächlich wurde sie daraufhin zu einer Art Ansprechpartnerin, was den Klimawandel und vor allem was "Climate Grief" also den Klimakummer betrifft. Leute kommen immer wieder mit ihr darüber ins Gespräch, wie aussichtslos sie die Lage empfinden. Sie selbst sieht diese Gespräche nicht als Last, denn sie wählt die Worte in ihren Songtexten mit Bedacht und weiß um die Verantwortung, die das mit sich bringt. Musik hat Macht auch auf sie. Musik kann helfen, stellt sie selbst mit 19 Jahren fest. Damals ist sie noch Schauspielerin und beschließt Singer-Songwriterin zu werden, um den Verlust einer ihr nahestehenden Person zu verarbeiten. Glücklicherweise lebt sie da gerade in Toronto zur Blütezeit der Indie Musik und so fasst sie Fuß in der dortigen Musikszene. The Weather Station, ihr Pseudonym, entspringt ihrer Fantasie: Sie stellt sich vor, dass ihre Songs Field Recordings von jemanden sind, der in einer imaginären Beobachtungsstation in der hohen Arktis lebt. Eine Person, die in einer Wetterstation die Lage der Welt betrachtet.
Nach einer Reihe von Folk-Alben öffnet sie auf "Ignorance" den musikalischen Raum für Jazz-Strukturen und genau hier schließt auch ihr neues Album "Humanhood" an. "Humanhood" heißt "Menschentum". Es ist ein altenglisches Wort aus dem 19. Jahrhundert, das eigentlich niemand mehr gebraucht. Gerade deshalb provoziert es dazu, ernsthaft über das Wesen des Menschen nachzudenken. So geht es auf dem Album um Körperlichkeit. Um unsere Körper und darum, dass wir abhängig von ihnen sind. Außerdem betrachtet Tamara die Körperlichkeit als das Gegenteil von Denken.
Das Thema Täuschung durchzieht die neuen Songs. Auch bezogen auf den eigenen Körper, der in Tamaras Leben ein unzuverlässiger Erzähler geworden ist infolge einer krankhaften dissoziativen Störung, unter der sie leidet. Es gibt blinkende Lichter, die einen in die Irre führen wie in dem Song "Neon Sign", man wird vom eigenen Körper getäuscht, der mit einer eigenen (biochemischen) Sprache, den Schmerz, spricht in "Body Moves" und es gibt um uns herum zerklüftete Signale wie in "Mirror" deutlich.
Außerdem gibt es in unserer Welt Täuschungen und Manipulationen, soweit das Auge reicht. Ein Geflecht aus Informationen und Falsch-Informationen. Mit dem Ergebnis: Wir sind überreizt und überfordert. Wollen leugnen, Dinge unter den Tisch fallen lassen und das Chaos in eine geradlinige Erzählung zwängen. Auch und vor allem, was unsere eigene Biografie betrifft. Dabei besteht das Leben aus Teilstücken, die wir zusammen-nähen, wie es auf dem Album im Kernsong "Sewing" heißt.
Passenderweise wirkt die Musik auf der neuen The Weather Station Platte wie ein Gewebe. Also wie ein Ganzes an Textur, Atmosphäre, und an Ausdruck, aber zugleich blitzen immer wieder einzelne Instrumente auf wie einzelne Gewebsfäden. Strenggenommen wird hier ersichtlich, dass Musiker*innen, ja Menschen, bei der Arbeit sind. Und auch das ist schon wieder eine Provokation in Zeiten einer allgemeinen alltäglichen Entmenschlichung, in einer Kultur, in der eine KI Songs schreibt und in der die Algorithmen regieren.
"Humanhood" ist ein ästhetisch-schönes Album und taugt trotzdem nicht zum Eskapismus. Es macht die Welt um uns herum nicht vergessen. Tamara Lindeman versucht auf dem Album den Spagat zwischen dem Wunsch nach Verständlichkeit und der Darstellung von Chaos. Ihr Gesang zeigt eine nicht vernuschelte sehr deutliche Aussprache und doch sind die Lyrics in ihren Erzählebenen springend. Die Arrangements der Songs, die sie wie eine Regisseurin dirigiert, öffnen Räume, oder folgen ihrer Stimme, entfernen sich von ihr und lösen sich gegen Ende eines Songs auf. Jubilierende Flöten oder tänzelnde Saxophone, die luftige Sphären repräsentieren, werden wieder eingefangen durch ein geerdetes Klavier. Klarheit und Chaos liegen in dieser Musik so wie im Leben selbst eng beieinander. Stets ist Tamara Lindeman auf der Suche nach Wahrheit. Nach wahrhaftigen Antworten.
Claudia Gerth, radioeins
Tracklist
1 | Descent |
2 | Neon Signs |
3 | Mirror |
4 | Window |
5 | Passage |
6 | Body Moves |
7 | Ribbon |
8 | Fleuve |
9 | Humanhood |
10 | Irreversible Damage |
11 | Lonely |
12 | Aurora |
13 | Sewing |