Album der Woche - "The Art Of The Lie" von John Grant

"The Art Of The Lie" von John Grant © Bella Union
"The Art Of The Lie" von John Grant | © Bella Union

Er habe mit Makramee angefangen, mit der Geduld prüfenden Knüpftechnik für Textilien und Ornamente, nur um mit der Situation der Welt klarzukommen, singt der renommierte Musiker John Grant auf seinem neuen Album "The Art Of The Lie". Es ist bereits das sechste Solowerk des sprachbegabten Amerikaners, der einst als Mitglied der Band Czars seine Musikkarriere begann und dessen Debüt von der außergewöhnlichen Formation Midlake instrumentiert wurde.

Zwischen Debüt und seiner neuen Platte liegen unzählige Livekonzerte unter anderem in Berlin, wo er vom Publikum stets besonders ins Herz geschlossen wird. Dazu ist der polyglotte Sänger oft umgezogen, er wohnt derzeit in Island, wo auch der Musiker Ásgeir Trausti vom Sprachtalent Grants profitierte. John Grant übersetzte dessen Texte vom Isländischen ins Englische.

In John Grants neuen Songs spiegeln sich nun einmal mehr die Schwachstellen unserer Gesellschaft, die schon dort beginnen, wo wir andere aburteilen. "Die Arroganz", sagt Grant, "das ist eine Zumutung. Dass die Menschen sich so anmaßen, mir zu sagen, wer ich bin, bevor ich überhaupt in der Lage bin, damit umzugehen als Kind, als junger Mensch. Also, das ist einfach zum Kotzen. Und da darf man wütend sein, glaube ich, aber man muss auch irgendwie darüber hinwegkommen, als erwachsener Mensch. Und das fällt mir schwer."


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Kein Wunder, dass es ihm schwerfällt. Seine Kindheit und Jugend haben tiefe Narben hinterlassen. Auch davon erzählen die neuen Songs. Bevor er In Heidelberg Dolmetscher für Deutsch studierte, ist John Grant in einem katholischen Elternhaus in Colorado aufgewachsen. Überflüssig zu erwähnen, dass er in diesem Umfeld wegen seiner Homosexualität ein besonders leichtes Ziel für Anfeindungen und Mobbing war. Etwas, das symbolisch zeigt, was auch heute noch gesellschaftliche Schwachstellen sind. Die nämlich, wo andere ausgegrenzt, marginalisiert, oder zum Sündenbock gemacht werden. Kurz: Hass und Häme. Reaktionen, die die Gesellschaft spalten und nicht zusammenbringen und uns in die Misere geritten haben, in der wir sind. "Ich bekomme immer gesagt", meint Grant, "du musst dir eine viel dickere Haut zulegen. Und ich finde, dass viele Arschlöcher so was behaupten. Oft, weil sie gerne so mit Giftpfeilen und blöden Sprüchen kommen und dann finden, dass alle anderen das einfach verkraften müssten. Und ich sage einfach ganz klar meine Meinung: "Nee, du bist einfach ein Arschloch. Tut mir leid.“

Womit John Grant vollkommen Recht hat. Sensibilität zu verleugnen, würde unsere Gesellschaft um keinen Deut besser machen. Rücksichtnahme aber schon. Er jedenfalls schafft es auf dem neuen Album einmal mehr, mit intelligentem Witz, mit scharfzüngigen Texten und kathartischer Musik sich zu helfen und anderen damit eine Stimme zu geben. Und natürlich ist der Mensch auch zu Gutem fähig. Empathie, Sinn für Gemeinschaft und Liebenswürdigkeit – Diese Dinge waren es bei der Entstehung seines neuen Albums, die ihn schließlich versöhnt haben. "Also muss ich sagen, da waren viele tolle Augenblicke“, meint Grant, "wie zum Beispiel als die Musiker ins Studio kamen in London. Auf den Boxen lief gerade irgendein Lied von mir, die beiden kamen rein, haben sofort angefangen zuzuhören und sich Gedanken zu machen, was wir für Musik machen. Die haben dann die schönsten Sachen gespielt. Es waren so tolle Menschen, mit denen ich da zu tun hatte, Das war wirklich die reinste Wonne“, schwärmt John Grant über die Aufnahmen. Das Musikerteam besteht aus: Gitarrist Dave Okumu [von The Invisible], aus Bassist Robin Mullarkey und dem sehr talentierten Seb Rochford am Schlagzeug. Zudem gibt es auf dem Album einen Gastauftritt der schottischen Sängerin Rachel Sermanni, die den wunderschönen und bewegenden Backgroundgesang auf 'Mother And Son' beisteuert.

Das Gefühl der Wonne ist dem neuen Album von John Grant auf jeden Fall anzuhören. Es ist musikalisch wahnsinnig spielerisch gestaltet zwischen Funk, Dreampop und New Wave. Textlich bringt es die seelischen Narben unserer Gesellschaft zum Vorschein, die fehlende Selbstliebe, die Missgunst und die verheerenden Auswirkungen der Scheinheiligkeit der Religionen. Zuletzt ist es aber gerade die Musik von John Grant und allem voran sein Gesang, der überaus befreiend, anmutig und zugleich ermächtigend wirkt. Auch wenn einen die Welt verrückt machen kann, wie es in dem Song "Marbles“ heißt.

"The Art of the Lie“ - Wer die Kunst beherrscht, eine Lüge so gut zu verkaufen, dass man sie selbst glaubt, der überzeugt die Menschen. Das sind nicht immer, vielleicht sogar selten, diejenigen mit den besten Absichten. "Ich sah, wie sie ihre Tyrannen mit Skulpturen verehrten“, heißt es im ersten Song des Albums "All That School For Nothin““.

Vor einigen Jahren hatte John Grant die Chance, das Haus seiner Kindheit noch einmal zu besichtigen. Viele Erinnerungen wurden wach. Insbesondere, weil sein Vater dieses Haus gebaut hatte mit seinen eigenen Händen. So habe er viel an seinen Vater gedacht und den Song "Father“ geschrieben. Ein Song über "mein Verhältnis, meine Beziehung zu ihm und wie sie sich auf mich ausgewirkt hat die ganzen Jahre hindurch“, sagt Grant. "Meine Familie, mein Vater, die waren sehr religiös und ich bin auch so erzogen worden. Und dann, als mir klar wurde, dass ich homosexuell war, dann wurde das natürlich alles anders, weil laut Bibel das nicht okay ist, schwul zu sein. Dazu kommt, dass die amerikanische Flagge und die Bibel so etwas wie eines sind. Also wird es natürlich für ein Kind sehr verwirrend. Meine Eltern haben mich noch geliebt, aber es war klar, ich darf, nicht so bleiben, wenn ich einen Platz in der Gesellschaft haben wollte. Wenn man ein Leben mit Gott zusammen haben wollte, dann muss man heterosexuell sein. Und das war natürlich sehr schmerzhaft für mich. Ich meine, das hat mich vollkommen fertiggemacht. Ich glaube, ich habe eine ziemliche Macke deswegen.“

Songs zu schreiben, ist einfach der Weg für ihn, mit Schmerzen und furchtbaren Gedanken umzugehen. Offen, schonungslos, analytisch zum Teil. In dem Song "Daddy“ geht es schließlich darum, wie er mit Männern umgeht. Ein Widerhall seiner Beziehung zu seinem Vater. "Ich sehne mich nach meinem Vater“, sagt Grant, "und ich versuche wahrscheinlich, ihn in anderen Männern zu finden. Oder ich suche die Ablehnung von anderen Männern, weil ich von meinem Vater abgelehnt worden bin.“ Im Grunde ist auch der Song "It’s a Bitch“ von seinen früheren Neurosen angetrieben. Es geht in dem Song um Typen, die in den amerikanischen Spielhallen früher die klassischen Spiele zockten; dabei gut aussahen und Iron Maiden auf ihren Walkman-Kopfhörern laufen hatten. Typen, die John Grant faszinierend fand, die sich aber nicht die Bohne um ihn scherten.

2022 hatte John Grant den Produzenten und Komponisten Ivor Guest bei einer Show von Grace Jones kennengelernt. Sie kamen ins Gespräch über zwei Platten, an denen Guest gearbeitet hatte: "Hurricane" für Jones und "Prohibition" für Brigitte Fontaine. "Grace und Brigitte sind zwei sehr wichtige Künstler für mich", sagt Grant. "Ich liebe die Alben, die er für sie gemacht hat. Ich denke wirklich, du solltest die nächste Platte mit mir machen und er sagte zu.“ Schließlich ist es gerade Ivor Guest und seine hochkarätige Musikerbesetzung, die bei "The Art of the Lie“ für Dramatik sorgen, für Dramatik á la Laurie Anderson oder The Art of Noise.

Claudia Gerth, radioeins

Tracklist

1. All That School for Nothing

2. Marbles

3. Father

4. Mother and Son

5. Twisted Scriptures

6. Meek AF

7. It's a Bitch

8. Daddy

9. The Child Catcher

10. Laura Lou

11. Zeitgeist

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