Album der Woche - "Everything Is Recorded" von Temporary

"Everything Is Recorded" von Temporary © XL
"Everything Is Recorded" von Temporary | © XL

Auf dem Album Nummer 3 mit seinem musikalischen Projekt Everything is Recorded erfährt Richard Russells musikalische DNA ein Reboot: Während seine Musik bislang geprägt war von Rhythmus, Worten und Melodie, in ebendieser Reihenfolge, tauschen zwei Aspekte diesmal ihre Rollen. Der Rhythmus tritt zugunsten der Melodie in den Hintergrund.

Richard Russell wurde 1971 in London geboren. 1991 kam er als A&R zu XL Recordings und übernahm das Label einige Jahre später, wobei er eine Reihe von Künstlern anzog, darunter Dizzee Rascal, MIA und Adele. Seine parallele Karriere als Produzent begann 1992 mit Rave-Single "The Bouncer". 2010 gab es eine gefeierte Zusammenarbeit mit Gil Scott-Heron und er hat auch das letzte Album von Bobby Womack gemeinsam mit Damon Albarn produziert.

Das neue Album "Temporary" ist vom Gedankenexperiment "what if folk music had ‘gone digital’ in the 80s, just as reggae had?” geleitet, während sich in spiritueller und textlicher Hinsicht vieles um Trauer und den Verlust dreht. Die Songs wirken fragil und fast still. Der Albumname ist passend dazu gewählt.

"Temporary" ist eigentlich die Abkürzung für "Richard Russell is Temporary" und verdeutlicht die Vergänglichkeit. Es geht darum, dass unsere physische Existenz vergänglich ist, aber etwas von uns bleibt möglicherweise bestehen – wie zum Beispiel der "Geist" oder die Musik, findet Richard Russell. Musik ist eine Art Zeitkapsel, die über die Zeit hinweg existiert. Die auf dem Album vertretenen Künstler sind unterschiedlichen Alters, und einige der Stimmen stammen von Menschen, die bereits verstorben sind, wie das Gesangs-Sample von Molly Drake, der Mutter von Nick Drake. Das Album reflektiert, dass unsere Beziehungen zu Verstorbenen weiterhin Einfluss auf uns haben, und dass das, was vergänglich ist, auch Dinge beinhaltet, die dauerhaft sind.

In seinem Studio führt Russell tiefgehende und interessante Gespräche, die eine besondere Atmosphäre schaffen, in der sich die Menschen öffnen. Er hat begonnen, diese Gespräche aufzuzeichnen, nachdem er zuvor bereits gesprochene Worte, meist aus Filmen, in seiner Musik verwendet hatte. Die aufgenommenen Dialoge wurden zu zentralen Themen des Albums und bilden die Grundlage für einige Songs, darunter "October" und "The Summons". Diese beiden Stücke dienen als Fundament für den Rest des Albums.

Die Entstehung der Songs auf dem Album variiert stark. Der Prozess für "October" begann mit dem Sampling eines Gitarrenparts von Jackson C. Frank, gefolgt von der Kombination mit Drumcomputer-Sounds und einer aufgenommenen Unterhaltung, was zu einer Collage führte. Im Gegensatz dazu wurde "Porcupine Tattoo" auf traditionellere Weise mit Jack Penate und Noah Cyrus aufgenommen, wobei auch ein Gesang von Bill Callahans Demoversion integriert wurde. Der Song "Ether" entstand in Zusammenarbeit mit Ezra Koenig von Vampire Weekend, wobei sie Maddy Prior für den Gesang einluden und Folk mit elektronischen Beats kombinierten. Die Zusammenarbeit mit Sampha erfolgt spontan, indem sie gemeinsam Musik machten und Sampha dann improvisiert, was oft zu einem vollständigen Song führt. Insgesamt spiegelt das Album eine experimentelle Herangehensweise wider, bei der verschiedene Methoden und Techniken zum Einsatz kommen.

Auf dem Cover sieht man ganz rechts oben ein kleines Kästchen, darauf steht "New Directions from Richard Russell and a zodiac of his peers". Das Wichtigste daran ist das Wort "Peers", sagt Richard Russell. Womit die verschiedenen Persönlichkeiten der Mitwirkenden an einem Album beschrieben werden. Russell sieht diese Künstler als seine Peergroup, mit der er gemeinsame Interessen und Werte teilt, trotz unterschiedlicher Hintergründe und Altersunterschiede. Das Cover des Albums zeigt ein Foto von Karten, Details der Mitwirkenden. Russell hat viel Zeit und Mühe in das Artwork und die gesamte Produktion des Albums investiert, ist sich jedoch bewusst, dass die Menschen heutzutage oft nicht die Zeit haben, ein Album aufmerksam zu hören. Trotz dieser Herausforderung bleibt er engagiert und gibt sein Bestes, um etwas Bleibendes zu schaffen.

An der Tür von Russells Tonstudio hängt ein Schild mit der Aufschrift "No Outside Realities": Die "Outside Realities" beziehen sich auf die alltäglichen Sorgen und Ablenkungen, die den kreativen Prozess beim Musizieren stören können. Der Computer spiele eine zentrale Rolle in der Musikproduktion, sei jedoch auch eine Verbindung zur Außenwelt, was zusätzliche Herausforderungen mit sich bringt, meint Russell. Disziplin ist erforderlich, um sich auf die Musik zu konzentrieren. Langeweile führe oft zu den besten kreativen Ideen, meint Russell, was heutzutage schwierig ist, da Unterhaltung ständig verfügbar ist. Aufgewachsen in einer langweiligen Umgebung, wurde er inspiriert, kreativ zu werden und etwas zu schaffen.

Auch nach all den Jahrzehnten im Musikgeschäft sagt Richard Russell: "Ich folge meinem Instinkt und arbeite immer nur an einem Projekt, denen ich meine volle Aufmerksamkeit schenke und offen bin für Ideen, die dazu beitragen können."

Nach wie vor beschreibt Richard Russell seinen Ansatz bei der Arbeit als eine gelungene Kombination aus musikalischem Können und tiefen philosophischen Gedanken, gepaart mit der Einfachheit eines 808 Drumcomputers. In dem Song "Swamp Dream" erklingt beispielsweise das beeindruckende Cello Claris von der Band Mary in the Junkyard, während ein einfacher Rhythmus und eine Basslinie sie begleiten mit intesivem Ergebnis. Außerdem schätzt Russell Künstler wie Tyler The Creator, die raffinierte Ideen mit simplen Elementen verbinden. Diese Mischung aus Klugheit und Einfachheit spiegelt seiner Meinung nach perfekt die menschliche Natur wider und es ist wichtig, Vielfalt anzunehmen.

Claudia Gerth, radioeins

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Album der Woche © IMAGO/hurricanehank
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